Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
»Ich muss mit Ihnen sprechen.«
Hassan stand an der Theke und tippte Zahlen in die Kasse. »Was gibt es?«
Rubin schüttelte den Kopf. »Können wir ungestört reden?«
»Es ist gerade nicht sehr günstig. Wie Sie sehen, habe ich …«
»… ich warte draußen auf dem Marktplatz auf Sie«, sagte Rubin mit eisiger Bestimmtheit.
Rubin drängte sich durch die Masse der Kunden nach draußen, Freitag trottete hinterher. Ihm schien der Andrang nicht ganz geheuer zu sein.
Hassan folgte unmittelbar. Er nutzte die Gelegenheit, eine Zigarette zu rauchen.
»Ich will es kurz machen, Hassan: Wo haben Sie sie?«
»Wie bitte? Wo habe ich was?«
»Die Herztabletten Ihres Bruders.«
Hassan lachte verächtlich. »Herztabletten, was erzählen Sie da?«
»Geben Sie sich keine Mühe. Ich meine die Medikamente, die Sie gestern Abend aus Serkans Küchenschrank genommen haben, während ich die schönen Kunstdrucke bewundert habe.«
Hassan nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus.
»Also gut, Herr Kommissar. Ich habe die Medikamente an mich genommen. Ich habe sie im Laden. Ich kann sie Ihnen geben. Woher wissen Sie von Serkans Krankheit?«
»Sie haben sich viel Mühe gegeben, sie zu verheimlichen. Warum, war Ihnen die Krankheit Ihres Bruders peinlich?«
»Moment«, sagte Hassan und zückte sein Handy. Er wählte eine Nummer und sagte dann sehr rasch und befehlend einige Sätze auf Türkisch.
»Meine Frau bringt die Medikamente sofort.«
»Also noch einmal: Warum haben Sie Serkans Krankheit verheimlicht?«
Hassan trat seine Zigarette auf dem Pflaster aus.
»Tut mir leid, das geht nur die Familie etwas an. Seit dem Tod unseres Vaters bin ich das Familienoberhaupt, ich musste Entscheidungen treffen. Ich habe für alle die Verantwortung und entscheide allein.«
»Hat Serkan das genauso gesehen?«
Hassan wurde rot vor Wut. »Ja, natürlich hat er das!«, schrie er mit so weit ausholenden Gesten, als wollte er einen Mückenschwarm vor seinem Gesicht vertreiben.
»Was hielten Sie von seinen Studienplänen?«
»Welche Pläne?«, rief Hassan. »Davon weiß ich nichts.«
»Serkan hat gemalt, er wollte Kunst studieren.«
»Pah, diese Schmierereien! Das kann ich auch, wenn ich will. Serkan hatte kein Talent. Er war ein Träumer.«
»Er war entschlossen, den Laden aufzugeben und Bad Löwenau zu verlassen.«
Hassan lachte voller Spott und Herablassung. »Und wovon wollte er leben, wenn ich fragen darf?«
»Er hätte arbeiten gehen können.«
»Niemand hätte ihn mit seinem Herzleiden eingestellt!«
»War Serkan als schwerbehindert eingestuft?«
Hassan zögerte, dann nickte er.
»Wo war Serkan in Behandlung? Hier in Bad Löwenau?«
»Nein, in der Stadt.«
»Hat er dort auch die Medikamente gekauft?«
Hassan senkte den Blick. »Ja.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Mini-Supermarktes, und die junge Frau trat ins Freie. Freitag lief ihr entgegen, aber sie ignorierte ihn vollkommen und überreichte Hassan eine rechteckige Pappschachtel.
»Das ist meine Frau Gülcan«, sagte Hassan.
Rubin reichte der jungen Frau die Hand. Sie hatte beinahe pechschwarze Augen und war bis auf einen feinen Kajalstrich ungeschminkt. Jetzt entdeckte Rubin graue Strähnen in dem blondierten Haar, das das Kopftuch nicht verdeckte. Unmittelbar nach dem Austausch der Höflichkeiten machte sie wieder kehrt und ging schweren Schrittes in den Laden.
Sie hatte nicht ein Wort gesprochen.
Rubin betrachtete nachdenklich das Medikament in seiner Hand. Der Name sagte ihm nichts. Er öffnete die Schachtel und fand darin unterschiedliche Briefchen mit Tabletten in Weiß, Grün, Rot und Gelb. In einem der Briefchen waren die bereits herausgedrückten Tabletten durch andere ersetzt worden. Rubin fragte sich, wie Serkan bei diesem Wirrwarr den Überblick behalten hatte.
Freitag saß noch immer auf dem Pflaster und ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern. Hassan rieb sich die Oberarme. Er war ohne Jacke nach draußen gekommen und zitterte.
»Wissen Sie, wer Serkans Freundin war?«, fragte Rubin.
Hassan sah ihn scharf an. »Freundin? Serkan? Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen!«
Diesmal glaubte Rubin Hassan tatsächlich, dass er nichts wusste.
»Warum ist der Gedanke für Sie so abwegig?«
»Serkan hat immer seine Bücher gelesen und seine Bilder gemalt. Ich habe es doch schon gesagt: Er war ein Träumer und immer müde. Müde Männer kommen nicht gut bei Frauen an. Er war mein
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