Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
Bruder, ich sage niemals etwas Schlechtes über ihn! Ich schwöre! Aber er war kein Frauentyp.«
Rubin spielte mit der Medikamentenschachtel in seiner Hand.
»Sie haben mir Rätsel aufgegeben«, sagte er schließlich. »Ich habe lange grübeln müssen, warum die zwei Streitigkeiten, die Serkan vor seinem Tod hatte, für Sie so wichtig waren.«
Hassan legte den Kopf in den Nacken. »Jetzt wissen Sie es, Herr Kommissar. Serkan brauchte sehr viel Ruhe. Jede Belastung hat sein Herz geschwächt. Und an diesem Tag waren es gleich zwei Auseinandersetzungen.«
Rubin steckte die Medikamentenschachtel in seine Jackentasche und sagte: »Nein, Hassan, nicht zwei – drei.«
25
Im Verkaufsraum der Adler-Apotheke waren zwei Kunden, die Apothekerin Iris Adler bediente den einen, ihre Mitarbeiterin Bianca Reich den anderen.
»Das Medikament kannst du bedenkenlos nehmen, keine Sorge«, sagte Iris Adler zu dem alten Mann an der Theke. Sie begrüßte Rubin, dem sie zuvor noch nicht begegnet war, mit einem freundlichen Nicken.
Der alte Mann drehte sich um.
»Ach, Christoph, du bist es«, sagte er erfreut. »Wie geht’s, mein Junge?«
»Mir geht’s gut, und dir, Manfred?«
Es war Rubins Nachbar von früher, der im Haus schräg gegenüber dem seiner Eltern gelebt hatte.
»So wie immer: Beschissen wäre geprahlt. Unsere Iris versucht zu retten, was nicht mehr zu retten ist.«
Alle lachten. Rubin stellte sich der Apothekerin offiziell vor. Manfred rief zum Abschied: »Schönen Tag noch, ihr Jungvolk!« und ging.
Bianca Reich war im Begriff, ihren Kunden, einen jungen Mann, kaum älter als sie selbst, zu verabschieden.
Rubin steuerte direkt auf sie zu und stellte sich auch ihr offiziell vor.
Bianca hatte ein schmales, eingefallenes Gesicht, eine hohe Stirn und blasse Lippen. Ihr Haar war blond und fiel gerade und dünn auf ihre Schultern. Rubin legte das Medikamentenpäckchen auf die Verkaufstheke.
»Ich brauche eine Auskunft von Ihnen. Bei welcher Art von Herzerkrankung werden diese Tabletten verschrieben?«
Bianca Reich sah sich die Verpackung nur kurz an. »Im Fall einer schweren Herzinsuffizienz, Herr Rubin.«
Sie schaute Rubin fest ins Gesicht, doch es war, als blicke sie mit ihren hellen, stechenden, fast gläsernen Augen durch ihn hindurch.
»Ein schwerer Fall?«, fragte Rubin.
»Sehr schwer«, antwortete Bianca.
Sie sprach wie unter einer großen Last, ihr zierlicher Körper war starr vor Anspannung.
Er öffnete das Päckchen und zeigte ihr den Wirrwarr an bunten Tabletten. Ein Schatten des Entsetzens huschte über ihr Gesicht und hinterließ ein leeres Glänzen in ihren Augen. Sie sah jetzt noch viel zerbrechlicher aus als eben.
Plötzlich kamen Rubin die Worte des Gedichtes in den Sinn, das Weimar ihm vorgelesen hatte, das Lieblingsgedicht Serkans:
»Du schlank und rein wie eine Flamme, du wie der Morgen zart und licht.«
Und Rubin begriff.
Iris Adler trat zu Bianca und warf einen sorgenvollen Blick auf das Medikament.
»Das ist das stärkste Herzmittel, das es auf dem Markt gibt. Mit immensen Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Konzentrationsstörungen und Antriebslosigkeit bis hin zu Depressionen. Ich hoffe nicht, dass das Medikament für Sie ist.«
Rubin schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Biancas Augen starrten ins Leere, sie zitterte. Gleichzeitig offenbarte sie eine eiserne Disziplin. Sie zählte nicht zu den Menschen, die vor anderen ihren Gefühlen hemmungslos freien Lauf lassen.
Eine Weile sprach niemand ein Wort. Rubin hatte viele Fragen, doch er spürte, es war nicht der Moment, sie zu stellen. Die Stille stand wie eine durchsichtige Wand im Raum.
Er fühlte Erleichterung, als sein Handy klingelte. Zum Glück war es weder die Bürgermeisterin noch Schwarze. Es war Bernstein.
»Was gibt es?«
»Heiße Neuigkeiten aus Absurdistan!«
»Einen Moment, Bernstein.« Rubin wandte sich den beiden Frauen zu: »Bitte entschuldigen Sie«, dann ging er nach draußen auf den Marktplatz, um ungestört reden zu können.
Er genoss die Kühle, den leichten Wind, der sich von den Dächern herabsenkte.
»Ich bin ganz Ohr, Bernstein.«
»Mein Lieber, der Himmel hängt voller staunenswerter Zeichen, die wir nur richtig deuten müssen: Soeben erhielt ich den Anruf eines besorgten Mitbürgers, der auf drastischste Weise seine Verwunderung zum Ausdruck brachte, dass in Bad Löwenau die Toten quicklebendig durch die Nacht spazieren.«
»Tote spazieren? Bernstein, komm auf den Punkt.«
Rubin
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