Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Zeit, in der Frauen darum konkurrieren, welche von ihnen den besten Kaffee zubereiten kann, obwohl sie alle die gleiche Kaffeemaschine besitzen, die gleichen Kaffeebohnen kaufen und sogar das gleiche Leitungswasser benutzen.
Ana hat Glück. Sie ist nicht in dieser Zeit gefangen. Ihre Minuten haben schon immer unabhängig von den dazugehörigen Stunden geschlagen. Sie ist nicht gebunden an vorgefestigte Meinungen, zugeordnete Ansichten und luftleere Behauptungen. Sie hat die Freiheit, jedem Augenblick so freimütig entgegenzublicken, wie sie ihn auch wieder verlassen möchte. Und wenn die Frau des Wissenschaftlers nicht angefangen hätte, mit andeutungsvollen Bemerkungen zu sticheln, dann hätte Ana niemals begonnen, darüber nachzudenken, ob irgendetwas an ihrer Freundschaft zu dem weisen Zeitgefährten falsch oder anzüglich sein könnte. Dabei hat Ana keinen Grund, an sich zu zweifeln. Sie liebt den Wissenschaftler der Zeit nicht mit nackten Gedanken; sie liebt seine Ruhe, seine Gelassenheit, die Art, wie er Worte ausspricht und Sätze zusammenbringt, die sie noch nie zuvor gehört hat. Sie liebt es, ihm dabei zuzusehen, wie er in uralten Büchern mit zerfledderten Einbänden liest und ihr anschließend die Geschichte einer längst vergangenen und dennoch andauernden Zeit erzählt. Sie liebt es, wie er still vor sich hin lächelt, und dass er nichts tut in Erwartung auf Zuspruch oder Lob. Er hat die Gewissenhaftigkeit der beflissenen Gezeiten in seine Gesichtszüge gemalt. Seine Stimme ist wie das Meer, tief und weitreichend, und Ana ist sich sicher, dass sie für immer Freunde bleiben werden, auch wenn er altern wird, während sie noch in den jüngeren Tagen zu Hause ist. Denn Ana weiß ganz genau: Es gibt keinen Raum, der Freundschaft begrenzt. Es gibt keine Zeit, die Freundschaft berechnet. Und es gibt kein Gesetz, das besagt, dass man nur einen einzigen Menschen lieben darf.
Ja. Ana kennt sich aus mit den Facetten der Liebe. Sie liebt ihre Eltern, obwohl die beiden selten für sie da sind und nicht wissen, wie man eine Familie zusammenhält. Ana hat verstanden, dass ihre Eltern ihr Bestes geben, auch wenn das nicht annähernd genug ist. Und Ana ist nicht böse deswegen, oder enttäuscht. Denn sie weiß, dass ihr Vater für wichtige Dinge kämpft, ohne sich jemals darüber zu beschweren, dass die Sachen, die ihm im Leben wichtig sind – seine Familie, seine Freunde –, einfach auf der Strecke geblieben sind. Er hat sich für diese Aufgabe entschieden, weil er sie für bedeutend hält und weil er sein Leben mit Bedeutung füllen muss, um ein erfüllendes Dasein zu führen. Die Konsequenzen sind nicht immer schön: Er hat das Aufwachsen seiner Tochter verpasst, er darf seiner Frau nicht erzählen, womit er seine Zeit verbringt, und er muss immer in Bereitschaft sein, zu verschwinden. Aber er hat seiner Frau ein großes Haus gekauft, so wie sie es immer wollte, er hat seiner Tochter jeden Wunsch erfüllt, ohne sie zu verwöhnen, und jedes Mal, wenn er nach Hause kommt und Ana auf ihn zustürmt, als hätte sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, brennt sein Herz vor Glück und Sehnsucht.
Auch Anas Mutter ist ein liebenswerter Mensch. Sie verbringt zwar einen großen Teil ihrer Zeit mit Oberflächlichkeiten und sinnlosen Belangen, aber das liegt daran, dass sie einsam ist und nicht weiß, wie sie die Leere eingrenzen kann. Sie hat den Mann geheiratet, den sie liebt und begehrt, aber er ist ständig unterwegs. Sie vermisst seine Gegenwart so sehr, dass sie ihre eigene nicht ertragen kann. Dabei ist sie hübsch und beliebt, und könnte sich mit Leichtigkeit auf einen Flirt einlassen oder einen neuen Mann zum Lieben finden – aber das würde sie niemals tun. Denn sie liebt ihren Mann innig und aufrichtig; und deshalb wartet sie auf ihn und wirft ihm mit keinem Wort vor, dass er sich für diesen gefährlichen Job entschieden hat, statt für die Liebe.
Ana Davis, das Mädchen in dem stillsten Haus in der Stadt am Waldrand. Sie hat keine Geschwister, keine Großeltern, keine Tanten, keine Onkel, keine Cousins. Dafür hat sie das Eichhörnchen, das hinten im Garten des Wissenschaftlers auf einem Baum wohnt, und den kleinen grauen Vogel, der jeden Morgen auf ihrem Fensterbrett sitzt und seinen Schnabel gegen ihre Scheibe legt. Ana hat den Teich im Garten, in dem die Goldfische ihre Kreise ziehen, und sie hat den Regen, den Schnee, das Licht der Glühwürmchen und den Morgentau auf der Wiese.
Es ist eine schöne
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