Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
hinter der Ana verborgen lag, und hat lächelnd gefragt, wie man denn so geduldig und so zeitlos den ganzen Tag in einem Busch sitzen könne.
Da hat Ana gelacht.
Und der Wissenschaftler auch.
Kurz darauf sind die beiden Freunde geworden, obwohl der Wissenschaftler damals schon fünfzig war und Ana erst sechs. Sie haben sich niemals die Mühe gemacht auszurechnen, wie viele Jahre zwischen ihnen liegen. Sie haben immer nur das gesehen, was sie verband.
Die Frau des Wissenschaftlers hingegen fand die Freundschaft der beiden von Anfang an seltsam. Sie hatte keine Kinder, und sie wusste auch nicht, wie man mit einem Kind umgeht. Sie wollte lieber, dass Ana auf ihrer Seite vom Gartenzaun spielt. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum Ana und ihr Mann manchmal stundenlang zusammen auf der Wiese im Garten saßen und einen Vogel dabei betrachteten, wie er auf einem Ast herumspazierte. Aber der Wissenschaftler und Ana hatten einander ins Herz geschlossen, und so konnte die Frau des Wissenschaftlers gar nicht anders, als zu akzeptieren, dass Ana von nun an regelmäßig mit ihrem Mann die Zeit betrachten würde.
Dann ist Ana älter geworden, und mit jedem Tag wurde die Frau des Wissenschaftlers unfreundlicher. Sie hat nie böse Worte benutzt oder einen Streit angefangen, aber sie hat undeutliche Sätze gesagt und zweideutige Antworten gegeben. Sie hat Ana unwirsche Blicke zugeworfen und ihrem Mann unbegründete Vorwürfe gemacht.
Sie hat auf ihre Uhr geblickt.
Ungeduldig und rastlos.
Sie hat gesagt: »Ana, ich denke, es ist an der Zeit für dich, nach Hause zu gehen.«
Und da hat Ana verstanden, dass die Zeit festgebunden ist an alle Geschehnisse; und dass ebenso die Geschehnisse gebunden sind an alle Zeiten.
Also ist Ana nach Hause gegangen.
Und hat geweint.
Weil sie nicht verstehen konnte, warum sie in einer Welt voller Misstrauen und Unsicherheiten aufwachsen musste. Sie hätte gerne das Glück der unvoreingenommenen Freiheit in den Augen ihrer Mitmenschen glitzern gesehen. Sie hätte gerne gewusst, dass alle wissen, dass man nichts und niemanden besitzen kann. Dass man Liebe schenkt und nicht einfordert. Dass man Liebe auf Händen trägt und nicht hinter sich herschleift. Dass man Liebe achtet: und nicht liebt, um Beachtung zu erhalten.
Und dass es unendlich viele Formen der Liebe gibt; genauso wie die endlosen Unformen der Lieblosigkeit.
Aber von der aufrichtigen Liebe wusste Ana, dass sie unschuldig ist und rechtschaffen – sie äußert sich nicht körperlich, nicht lustvoll, nicht begierig, nicht einschränkend. Sie berührt ein Herz, ohne es zu besetzen. Sie berührt einen Menschen, ohne Besitz von ihm zu ergreifen.
Sie bereichert die Zeit.
Und vervielfacht.
Jeden geteilten Augenblick.
Die Frau des Wissenschaftlers hingegen kannte damals wie heute nur eine einzige Form der Liebe. Und diese Liebe hat keinen besonderen Namen, denn es ist die, die man mit einem Ehevertrag in Anwesenheit von Zeugen besiegelt. Es ist die Art von Liebe, die man garantiert bekommen muss, um an sie zu glauben.
Und weil das alles ist, was die Frau des Wissenschaftlers kennt und kennen möchte, weil das alles ist, womit sie umgehen kann, ohne aus sich herauszugehen, kann sie nicht verstehen, dass die Zuneigung, die ihr Mann für das junge Mädchen empfindet, keine Bedrohung für sie ist. Sie kann nicht anerkennen, dass die Schönheiten, die der Wissenschaftler und Ana sehen, während ihrer gemeinsamen Betrachtung der Zeit, so rein sind wie ein unbeschriebenes Gewissen.
Aber bevor ein Urteil gesprochen wird – zwischen den Zeilen, über die Menschen, auf deren Fußmatten wir unterschwellig stehen und herumtrampeln –, bevor wir uns versprechen, sprechen wir uns lieber frei.
Denn eigentlich kann die Frau des Wissenschaftlers gar nichts dafür. Sie ist einfach nur so, wie sie ist. Und sie ist in einer kalten und lieblosen Familie aufgewachsen, ohne jemals Zuneigung erfahren zu haben. Außerdem ist sie in eine Zeit hineingeboren, in der Frauen um alles wetteifern – die kleinen Mädchen streiten sich darum, wer die schönste Mutter hat, die großen Mädchen streiten sich über die Farbenpracht ihrer Haarspangen und um die Länge ihrer Kleider, die jungen Frauen streiten sich um die erfolgreichsten Männer und um die erfolgversprechendsten Schönheitsoperationen, und die alten Frauen streiten sich mit sich selbst und übertragen die überschüssigen Differenzen auf die jüngeren Frauen um sich herum. Ja. Es ist eine
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