Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Welt. Unumstößlich.
Das wissen alle Menschen.
Sogar die, die so tun.
Als wüssten sie es nicht.
Ana Davis. Fünfzehn Jahre alt. An diesem sonnigen Tag liegt sie neben dem alten Wissenschaftler auf einer dunkelblauen Decke im hohen Gras und betrachtet die tief hängenden Wolken.
Ana und der Wissenschaftler der Zeit. Sie unterhalten sich nicht, sie blicken einfach nur zusammen auf die vorbeiziehende Formation von Wasserdampf und Luftpartikeln.
Der Wissenschaftler seufzt, weil es ein guter Moment ist, unbefangen und frei. Außerdem weiß er: Neben ihm liegt ein Mädchen, das all die Dinge, die er schon gesehen hat, eines Tages entdecken wird. Und er mag die Art, wie sie ihm zuhört, auch wenn ihre Augen dabei so aufgeweckt durch die Gegend wandern, als wäre sie an jedem Ort zugleich, aber niemals dort, wo sie sich gerade befindet. Und er weiß: Sie hat es nicht leicht, dort drüben in dem leeren Haus, in dem sie viel zu oft alleine durch die langen Gänge der auswärtigen Geborgenheit streicht.
Der Wissenschaftler der Zeit. Er sieht hinüber zu Ana, und ihm wird bewusst, wie sehr er ihre Art zu lächeln mag, den Klang ihres Lachens, die eigenartigen Witze, die sie erzählt, auch wenn er nur wenige davon versteht. Ja. Er mag ihre Sprache, die lustigen Worte, die es zu seiner Zeit noch gar nicht gegeben hat, die bunten Bilder vom Schulhof, das komische Stottern in der lauten Musik, die sie manchmal hört, mit diesem winzigen Apparat, in dem man wahrscheinlich all seine Schallplatten und Kassetten zusammenfassen könnte.
Der Wissenschaftler der Zeit lächelt und wendet seinen Blick wieder hinauf zum Himmel. Ja. Er mag dieses kleine Geschöpf sehr; er liebt es, auf eine ganz besondere Art. Vielleicht weil er gerne eigene Kinder hätte, aber dazu ist es nie gekommen. Doch nun hat er Ana, die jeden Tag über den Gartenzaun klettert und mit ihm der Zeit entgegenblickt.
Und was kann ein Mensch mehr haben?
Als Zeit. Und Zeit.
Und Zeit?
Nichts.
Nur die Zeit, die der Mensch teilt.
Der Wissenschaftler weiß: Das ist Glück.
Zweifelloses Glück.
Bedingungslos.
Ein Sturm kommt auf. Ana und der Wissenschaftler sehen sich an und lächeln. Sie haben keine Angst vor dem Aufbrausen der Zeit, sie kennen sich aus mit der tobenden Stille, mit dem Aufbruch und dem Einbruch und dem Gebrechen der menschlichen Verfassungslosigkeit. Sie haben beide viel gesehen. Ana in ihrer Welt, der Wissenschaftler in seiner Welt, und weil sie sich davon erzählen, Tag für Tag, wissen sie beide von den unbegrenzten Perspektiven der Erkenntnis.
Ana und der Wissenschaftler der Zeit. Sie setzen sich auf und sehen dem Sturm dabei zu, wie er in der Ferne einige graue Regenwolken versammelt. Aber dann deutet Ana in den Himmel direkt über ihnen, dort ist eine schneeweiße Wolke, die aussieht wie ein riesengroßer Kranich mitten im Flug. Der Wissenschaftler der Zeit erkennt den Kranich zwischen den anderen Schäfchenwolken und lässt seinen Blick über die langen Schwingen gleiten.
»Ob wohl noch irgendwer in dieser Stadt, genau in diesem Moment, zum Himmel hinaufschaut und den weißen Kranich sieht?«, fragt Ana leise flüsternd den Wind.
Der Wissenschaftler nickt ihr zu.
Und Ana lächelt.
Natürlich.
Wie sollte es auch anders sein?
In diesen vertrauten Raum tritt auf einmal die Frau des Wissenschaftlers. Sie hatte einen anstrengenden Tag. Sie hat eigentlich immer einen anstrengenden Tag, denn sie arbeitet bei Hustle&Winner und ist ständig umgeben von hektischem Stimmenwirrwarr, klingelnden Telefonen und schlecht gelaunten Anzugträgern, die ungeduldig an ihren Nervensträngen zerren und alles auf einmal haben wollen – und zwar am besten gleich und sofort.
Es muss immer die ganze Welt sein.
Alles andere ist nicht genug.
Die Frau des Wissenschaftlers ist müde und gestresst. Sie kommt nach Hause und sieht ihren Mann im Garten liegen, direkt unter dem weiten Himmel. Da beneidet sie ihn mit einem Mal um die Gelassenheit, die sie an ihm liebt, um die Weisheit, die er ausstrahlt, und um die Ruhe in seinem Gesicht. Und dann beneidet sie auch das junge Mädchen neben ihm – um das offensichtliche Herz, das sie in sich trägt, um die Anmut ihrer Gesten, um die Schönheit ihrer Gedanken und um die Farbklänge ihres Lachens.
Die Frau des Wissenschaftlers öffnet das Gartentor. Sie betritt den Kieselsteinweg und läuft an den zwei Rhododendronbüschen vorbei bis hin zu der Wiese, auf der Ana und der Wissenschaftler liegen. Die beiden
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