Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
nicht in die Tiefe blicken. Also fängt Hans Winter an, die Vögel zu zählen, die von rechts nach links an seinem Bürofenster vorbeifliegen. Zwischendurch zieht er alle Vögel ab, die von links nach rechts sein Blickfeld kreuzen. Nach einer halben Stunde ist er bei minus dreizehn angekommen und fragt sich, ob er sich besser fühlen würde, wenn er doch lieber die Vögel von links nach rechts gezählt und die von rechts nach links abgezogen hätte. Dabei macht Hans Winter sich gar nicht viel aus Zahlen. Das ist das Einzige, was ihn manchmal an seinem Job stört, all die Verhandlungen, das Feilschen, das Überbieten, die Verkaufszahlen, die Bestsellerlisten. All das nervt ihn. Und sein allerliebstes Buch, das er schon fünfmal gelesen und zweimal in zwei verschiedenen Verlagen verlegt hat, war sowieso nie auf einer Bestsellerliste zu finden. Doch trotzdem beinhaltet es alles, wonach er je gesucht hat – die Zeit. Immer wieder die Zeit.
Es ist das schönste Buch, das er je in seinen Händen halten durfte, und er würde es auf der Stelle noch einmal verlegen, selbst wenn nur hundert Menschen das Glück hätten, ausgerechnet auf dieses eine Buch zu stoßen.
Aber das ist alles nicht so einfach. Die Buchhändler haben chronische Migräneanfälle wegen der E-Books, die Verlagsvertreter verlieren ihre Arbeit wegen der hinterhältigen Abkürzungen der modernen Kommunikationswege, die Lektoren seufzen wegen der neuen Wortrichtlinien, die Schriftsteller schreiben in ihren ewig langweiligen Kreisen, die Leser stehen lustlos vor den übertrieben gestalteten Covern der überfüllten Ladenregale und kaufen sich dann doch lieber eine DVD.
Hans Winter vergräbt seinen Kopf in den Händen und seufzt. Er will jetzt nicht mehr über seine Arbeit nachdenken. Er will überhaupt nicht mehr denken. Der Anruf, den er heute in aller Frühe bekommen hat, hat ihn aus der Bahn geworfen – und er möchte auch gar nicht wieder einsteigen, in diesen ratternden und ruckelnden Zug. Er will lieber neben den Gleisen herumtaumeln und endlich verstehen, wohin diese seltsame Bahn am Ende der Zeit führen wird.
Es klopft an der Tür. Einmal. Zweimal. Dreimal.
»Ich bin nicht da!«, ruft Hans Winter, ohne seinen Kopf zu heben.
Es klopft ein viertes Mal.
»Ich bin immer noch nicht da«, ruft Hans Winter.
So geht es weiter.
Bis zum Mittag.
Irgendwann wissen alle im Verlag: Hans Winter sitzt in seinem Büro und behauptet seit Stunden, er sei nicht da.
»Er wollte heute auch keinen Kaffee haben«, flüstert die Sekretärin aufgeregt, »und nach seinen Schokokeksen hat er auch nicht verlangt.«
Die Verlagswesen fangen an zu tuscheln. Sie stecken ihre Köpfe zusammen und sagen: »Aber hatte er nicht heute dieses wichtige Gespräch mit Frankreich? Und was ist mit der Besprechung wegen der nächsten Vertreterkonferenz? Was kann nur geschehen sein, das ihn so durcheinandergebracht hat?«
Keiner weiß eine Antwort.
Alles scheint normal zu sein.
Die Uhren ticken.
Die Zeit vergeht.
Aber Hans Winter wird bis zum Abend in seinem Büro sitzen und niemandem die Tür öffnen. Er wird das Klingeln des Telefons ignorieren und weiterhin die Vögel zählen. Erst spät in der Nacht wird er als Letzter das Verlagsgebäude verlassen und über sieben Umwege nach Hause fahren. Seine Frau wird ihm besorgt die Tür öffnen und ihm den Aktenkoffer und die Jacke abnehmen. Sie wird ihn in ihre Arme schließen, ohne zu wissen, was geschehen ist. Und sie wird ihn auch nicht danach fragen. Denn sie kennt und liebt ihn schon lange genug, um zu verstehen, dass er nicht sprechen möchte.
Nicht heute.
An diesem wortlosen Tag.
14
E in Mädchen mit langen, dunkelbraunen Haaren und nebelregengrauen Augen liegt auf dem kalten Steinboden eines dunklen Kellers. Ihr Atem ist ganz ruhig, so ruhig, als würde sie schlafen – aber sie schläft nie. Sie hat vergessen, was der Unterschied zwischen Alptraum und Realität bedeutet, sie hat verlernt, ihre Augen zu schließen und blind der schwarzen Nacht zu vertrauen. Sie ist gefangen in einem Raum zwischen ihren Gedanken, ihr Handeln ist ihr fremd geworden, jede Bewegung fühlt sich an, als gehörte sie gar nicht ihr.
Das Mädchen mit den nebelregengrauen Augen. Sie blinzelt sich durch die Dunkelheit, sie versteckt sich vor ihrer Angst, sie verliert ihren Verstand.
Denn der Stand der Dinge.
Fällt tief und tiefer.
Auf den Grund.
Den sie nicht mehr sehen kann.
Und das seltsame Geräusch in der Ferne, es klingt nicht so,
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