Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
kann.
Aber dann versteht sie.
Ihr Knöchel ist gebrochen.
Genau wie ihr Bein.
Sie wird nirgendwo mehr hinrennen können. Sie wird nicht weiter kommen als bis zu der abgeschlossenen Kellertür. Für ein paar einsame Minuten empfindet sie endlose Trauer und Angst und Schmerz.
Aber dann auf einmal vergeht dieses Gefühl.
Und mit ihm alle anderen Gefühle.
Da weiß das Mädchen: Es ist okay, an diesem Ort zu bleiben. Es ist okay, hier zu sterben. Denn sie wird keine Schmerzen mehr haben. Es wird nie wieder weh tun.
Alles ist ganz still.
Totenstill.
Stilllebend.
Das Mädchen mit den nebelregengrauen Augen erinnert sich an den Geschmack von Erdbeereis und den Geruch von verglühten Wunderkerzen. Sie summt ein Lied, das sie einmal kannte, sie flüstert ein paar Worte, die sie einst gesagt bekommen hat.
Und dann, in der Absolution eines verlorenen Daseins, an dem Punkt, an dem sich jegliche Erkenntnis bündelt und selbst auslöscht, um nicht an Gültigkeit zu verlieren, um unantastbar zu bleiben, für alle Ewigkeit – an diesem einen unbestätigten Punkt verwandelt sich die Angst des Mädchens in sanftmütige Beständigkeit.
Das Mädchen lächelt.
Denn nun weiß sie alles.
Und sie versteht: Sie wird frei sein und zurück nach Hause kehren. Alles, was geschehen ist, wird sich in Luft auflösen. Die Luft wird davonfliegen, in eine ferne Welt und dort zwischen den herabfallenden Regentropfen eine leise flüsternde Geschichte erzählen. Irgendwo am Boden wird ein See sich ausbreiten, so weit, dass er irgendwann einen Fluss erreicht. Und dieser Fluss wird aufgeregt vor sich hin gurgelnd durch Wälder und Wiesen streifen, einige Bäche besuchen, einige Täler begrüßen, an einem weiteren See haltmachen und schließlich im Ozean münden.
Und dort.
Dort.
In der unendlich blauen Weite.
In der Tiefe der weißen Wellen.
Im Abgrund der Gezeiten.
Dort. Wird sie ankommen.
Und aufwachen.
15
R achel Hart, sechzehn Jahre alt, das beliebteste Mädchen der Klasse. Sie hat sonnenstrandblonde Sommerhaare und grasgrüne Frühlingsaugen. Ihr Lächeln ist unermüdlich, fortwährend. Schritt für Schritt geht sie ihren Weg. Es gibt keinen Schüler, der ihren Namen nicht kennt, es gibt keinen Lehrer, der ihr eine schlechtere Note als eine Drei geben würde.
Rachel Hart, Tochter eines Richters und einer Anwältin. Ihre Familie besitzt das schönste Grundstück der Stadt, vierzehn Zimmer, vier Badezimmer, ein riesengroßer Garten und ein See, der bis an den Waldrand reicht. Ja. In dieser Familie hat es immer Geld im Überfluss gegeben, Reichtum ist eine angeborene Selbstverständlichkeit, die weitervererbt wird, von Generation zu Generation, bis hin zu Rachel Hart. Sie besitzt drei Konten mit mehr Geld, als sie jemals haben wollte, sie hat drei Zimmer und eine eigene Bibliothek, jeder Wunsch wird ihr von den Lippen abgelesen, sie braucht keinen Finger zu rühren, denn das Hauspersonal kümmert sich um alles.
Rachel Hart. Sie hätte das verwöhnteste Mädchen der Stadt am Waldrand sein können, aber sie hat sich dafür entschieden, einen besseren Weg einzuschlagen. Denn sie hat früh gelernt, sich für die wesentlichen Werte zu entscheiden, sie hat rechtzeitig erkannt, dass der wahre Preis des Lebens unbezahlbar ist.
Und so ist Rachel Hart, das Mädchen mit dem höchsten Kontostand, gleichzeitig das Mädchen mit dem größten Herzen. Ihre Eltern könnten stolz auf sie sein, weil sie bodenständig, aufmerksam und hilfsbereit ist, aber stattdessen sind sie sauer, weil Rachel lieber Kunstgeschichte als Rechtswissenschaften studieren will. Alle in der Familie Hart haben bisher Jura studiert.
Ausnahmslos.
So war es schon immer.
Und so soll es auch immer sein.
Rachel Hart hat zwei ältere Brüder. Der eine hat gerade mit seinem Jurastudium begonnen, und der andere ist schon fast fertig. Sie sagen zu Rachel: »Du solltest es dir noch einmal überlegen, in dieser Familie halten wir zusammen – du wärst die Erste, die aus der Reihe bricht.«
»Aber ich interessiere mich nicht für das Recht in Paragrafen«, erwidert Rachel. »Ich mag Bilder und Rahmen und Leinwände.«
»So ein Schwachsinn«, sagen ihre Brüder. »Damit wirst du nie erfolgreich und angesehen werden.«
»Ich möchte lieber gesehen werden, als angesehen zu sein«, sagt Rachel.
»Ach, du!«, sagen ihre Brüder. »Gib doch zu, dass du all das Geld, das unsere Eltern für uns angelegt haben, genauso liebst wie wir!«
Rachel schüttelt schweigend ihren
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