Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
Vom Netzwerk:
als würde es sie vermissen. Und das Leben, dort am Ende der Unzeit, ist längst kein Teil mehr von ihr. Und hier, mitten im Sommer, weiß sie gar nicht, was für eine Jahreszeit gerade ist.
    Zu lange ist sie nun schon fort.
    Zu lange ist die Gefangenschaft ihr Fort.
    Sie hat keine Ahnung, welche Farbe der Himmel hat, wie hoch die Nebelschwaden über dem Tal am Waldrand liegen, wie anmutig der Mond die Nacht beherrscht, wann es Morgen wird und wann Mittag, und ob die Abenddämmerung immer noch die Kunst beherrscht, das Rauschen der Stadt in ein leises Flüstern zu verwandeln.

    Das Mädchen mit den nebelregengrauen Augen. Sie weiß nicht, wie lange sie schon an diesem Ort ist, sie weiß nicht, wie sie dort hingekommen ist, und sie hat längst aufgehört, darüber nachzudenken, wie schön es wäre, wenn sie davonkommen könnte.
    Sie liegt nur da und lauscht auf ihren Atem; das Beben in ihren Lungen erzählt eine Geschichte. Sie versucht sich darauf zu konzentrieren, sie versucht in einer Welt hinter ihren Gedanken zu verschwinden, damit sie nicht mehr hier sein muss.
    Hier.
    In dieser Kälte, die an ihrer Verfassung zerrt.
    In dieser Dunkelheit, die ihren Verstand verschluckt.

    Das verborgenste Mädchen in der Stadt am Waldrand. Ihre nebelregengrauen Augen blinzeln und blinzeln, bis die Zeit sich in zwei Nervenstränge mit gegensätzlichen Strömungen spaltet. Es dauert einen Moment, aber dann, endlich, löst sich der Raum um sie herum auf, und die grauen Betonmauern verschwinden. Es gibt ein lautes, krachendes Geräusch, als ein paar Stahlsäulen einstürzen und eine Wolke aus Staub und Steinsplittern sich über das Mädchen herablegt.
    Dann folgt Stille. Für das unsichere Verharren eines rastlosen Augenblicks geschieht nichts, rein gar nichts. Wie festgefroren hängt die Staubwolke in der Luft, unbewegliches Geröll macht sich breit, unsichtbare Zeit läuft davon, kommt zurück, rennt von dannen, schleicht umher, vergräbt sich selbst.
    Aber dann, als würde sie von den Toten auferstehen, setzt sich das Mädchen langsam auf und wischt sich etwas Staub und ein paar Spinnweben aus ihrem Gesicht.
    »Ist alles okay?«, fragt eine Stimme aus dem Nichts.
    Das Mädchen sieht sich verwundert um.
    »Hier drüben«, sagt die Stimme.
    Und auf einmal kommt hinter einem wiederauferstandenen Stahlträger eine junge Frau hervorgetreten, die genauso aussieht wie das Mädchen, das sich gerade aus dem Staub gewühlt hat.
    »Wer bist du?«, fragt das Mädchen mit den nebelregengrauen Augen.
    »Ich bin du«, sagt die junge Frau leise.
    »Aber das kann nicht sein«, sagt das Mädchen kopfschüttelnd. »Es gibt mich nur einmal. Und außerdem bist du viel älter als ich.«
    Da lacht die junge Frau leise.
    Leise und traurig.
    »Ich bin genauso alt wie du«, flüstert sie kaum hörbar in die staubbedeckte Vergangenheit.
    »Was?«, fragt das Mädchen erstaunt. »Wie kann das sein?«
    »Sieh ganz genau hin«, flüstert die junge Frau und tritt dabei so dicht an das Mädchen heran, dass sie sich fast berühren. »Sieh ganz genau hin. Denn siehst du – da vorne, da vorne …«
    An dieser Stelle verstummt die junge Frau.
    Sie lächelt einen Moment verloren.
    Dann schließt sie ihre Augen.
    Und verschwindet.

    Das Mädchen mit den nebelregengrauen Augen bleibt alleine zurück. Es dauert ein paar Sekunden, bis sie versteht, dass sie gerade mit sich selbst gesprochen hat. Es dauert ein paar Minuten, bis sie begreift, dass sie wirklich der einzige Mensch ist – hier, in diesem verwüsteten Raum.
    Und es dauert eine ganze Stunde.
    Und eine halbe Ewigkeit.
    Bis sie erkennt.
    Dass ihre Lebenszeit verstrichen ist.
    Strich um Strich. Genau wie sie es in die Wand geritzt hat, in den ersten Wochen, bevor sie die Zeit verloren hat.

    Das Mädchen mit den nebelregengrauen Augen. Unsicher zupft sie sich einige Spinnweben aus ihren langen Haaren, dann streift sie die verbliebenen Staubflocken und den Schmutz von ihrer Kleidung. Mitten in der Bewegung hält sie inne und lässt ihren Blick über sich selbst wandern: Überall auf ihrer Haut sind blutige Kratzer und blaue Flecken. Einige Rippen scheinen gebrochen zu sein, und der Knöchel von ihrem rechten Fuß ist seltsam verdreht, genau wie zwei ihrer Finger.
    Nachdenklich betrachtet sie ihre Gestalt.
    Wie von weit her erkennt sie ihre Umrisse.
    Einen Moment lang bekommt sie Panik, einen Augenblick lang möchte sie die Flucht ergreifen – ihre Augen verschließen und rennen und rennen, so weit sie nur

Weitere Kostenlose Bücher