Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Handlungssträngen. Sie schiebt die Erinnerungen an ihre Vergangenheit beiseite, denn die Zeit hat sie ausgelöst, aus diesem zeitlosen Gefälle. Sie muss nicht mehr an damals denken.
Nicht heute.
An diesem Tag.
Doch dann wird es Abend. Und mit dem Abend kommt die Nacht. Und mit der Nacht kommt die Dunkelheit. Und mit der Dunkelheit kommen die bösen Gespenster.
Alice hält sich ihre Augen zu. Aber die Gespenster kommen trotzdem und raunen ihr zu: »Wir können dich sehen. Hörst du? Wir wissen immer, wo du bist.«
Da nimmt Alice die Hände von ihren Augen. Sie sieht hinauf zu dem leuchtend weißen Mond und verabschiedet sich von der Lichtung. Die Gespenster greifen nach ihren Armen, sie wollen sie hier halten, in der kalten Nachtluft, wo sie bald anfangen wird zu frieren. Sie wispern: »Bleib hier. Bleib hier bei uns. Leg dich nieder ins hohe Gras. Du brauchst nie wieder aufzustehen.«
Aber Alice schüttelt ihren Kopf. Sie möchte nicht an diesem jenseitigen Ort verweilen, in dieser Stille.
So weit. Entfernt.
Alice möchte zurück nach Hause, in die große Stadt mit den vielen Lichtern, in ihre Wohnung mit den vielen Büchern, in ihr Bett mit dem Stoffhasen und dem Hai und der Giraffe.
Also verlässt sie die drei Zauberbäume.
Und läuft davon.
Weg von den Gespenstern.
Weg von den Erinnerungen der Nacht.
Am nächsten Morgen wacht Alice auf. Die Sonne blinzelt an dem orangenen Vorhang vorbei und streicht sanft über ihr Gesicht. Alice tastet nach dem Hasen; er ist auf den Fußboden gefallen. Sie hebt ihn auf und legt ihn zurück zwischen Hai und Giraffe. Nun ist alles wieder okay.
Niemand ist verlorengegangen.
In der Dunkelheit der finsteren Träume.
Alice putzt sich ihre Zähne, wäscht sich das Gesicht und bindet sich ihre Haare zu einem Zopf. Dann trinkt sie ein Glas Wasser und tritt hinaus auf den Balkon. Der Wind ist kühl, aber nicht zu kalt, die Wolken sind dunkelweiß, aber noch nicht grau, und die Stadt unter ihr – sie ist laut.
Aber trotzdem kaum zu hören.
Alice Clay lächelt, obwohl sie weiß, dass heute ihr letzter Tag sein wird. Sie lächelt, obwohl sie weiß, dass die Alpträume der Tage und Nächte sie nie wieder loslassen werden.
Und sie lächelt.
Obwohl die Rasierklinge längst ihre Pulsader durchschnitten hat.
Alice Clay. Sie sitzt auf ihrem blutverschmierten Fußboden und greift zitternd nach dem Handy, um ihren Vater anzurufen. Doch dann hält sie inne. Es ist alles gesagt. Sie würde nur lauschen. Und er würde nichts verstehen.
Alice zögert einen Moment.
Aber die Zeit rinnt blutrot davon.
Es pocht und pocht und pocht in ihr.
Einen Augenblick lang denkt sie an ihre beste Freundin. Sie ist Schauspielerin, die erfolgreichste in der Stadt am Waldrand; so schön, dass es weh tut, sie anzusehen. Aber manchmal. Ja manchmal. Ist sie genau wie sie: So nackt. So leer. So unerkannt.
Wie gerne würde Alice etwas zu ihr sagen.
Ein letztes Wort, ein letztes Versprechen.
Aber Mädchen der Stille.
Erkennen sich.
Lautlos.
Schließlich ruft Alice den einen Menschen an, der sie gehalten hat, eine Stunde lang, einen Tag, und auf einmal ein ganzes Leben: den Verleger von Fitch&Fiction.
Es war Zufall, dass sie sich kennengelernt haben.
Sie ist gefallen.
Direkt vor seine Füße.
Er hat sie aufgehoben und ins Krankenhaus gebracht, obwohl sie auf dem Weg dorthin mindestens zehnmal beteuert hat, dass ihr nur ein kleines bisschen schwindlig gewesen sei.
Er hat ihr kein Wort geglaubt.
Ja. Eine Freundschaft.
So schön wie ein nacktes Gehirn.
Eine Träne rollt über Alices Gesicht, während sie das blutige Handy an ihr Ohr presst und langsam zu Boden sinkt. Aber sie lächelt noch immer. Denn sie weiß, dass es eine Zeit gibt im Leben, die da ist. Und eine Zeit, die geht.
Und wenn man Glück hat – so wie sie.
Dann bekommt man auch eine Zeit.
Um Abschied zu nehmen.
20
V alentin Fall, sieben Jahre alt, siebenhundert Lichtjahre von der Landung auf Pax entfernt und umgeben von siebzehn Paar achtlos zu Boden geworfenen Socken, die er eigentlich in seine Kommode hätte packen sollen. Aber es ist noch früh am Nachmittag, und die Strümpfe können bis zum Abend warten, das hat Valentin jedenfalls beschlossen, denn ohne seine Füße gehen die sowieso nirgendwohin. Außerdem findet Valentin, dass es sehr gemütlich ist, zwischen den bunt geringelten Socken. Ja, er mag die überblickbare Unordnung und das organisierte Chaos, das in seinem Kinderzimmer herrscht, und wenn seine
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