Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Gegenwart sieht ganz anders aus, und in der nahen Zukunft, in genau einer Woche, an seinem ehemaligen Hochzeitstag, wird der Vater des Jungen sich zudröhnen und mit einer Bierflasche in der Hand den Motor seines Wagens starten. Kurz darauf wird er das Zentrum der Stadt am Waldrand erreichen und an einer Kreuzung, ganz in der Nähe von dem Spielplatz am Schlosspark, einen vierjährigen Jungen überfahren.
Sie werden beide.
Verbluten.
Der Junge aus der Hochhaussiedlung. Er hat bald keinen Vater mehr. Aber in seinem kleinen grauen Zimmer, auf einem kleinen grauen Zustellbett, liegt ein fremdes junges Mädchen, das von nun an seine Schwester ist.
Er wird für sie sorgen.
Bis sie erwachsen ist.
Der Junge aus der Hochhaussiedlung.
Sein Name ist Josh.
19
A lice Clay. Das verstörteste Mädchen in der Stadt am Waldrand und doch so perfekt, dass niemand den Fehler in ihr erkennt. Sie arbeitet als Kindermädchen, um am Leben zu bleiben, aber eigentlich ist sie ein Mädchen des Todes. Sie hat dem Ende so oft in die Augen gesehen, dass sie sich längst an ihn gewöhnt hat. Sie kennt das Geräusch, das sein rasselnder Atem verursacht, sie kennt das Kribbeln, das seine eiskalte Berührung verursacht, und sie kennt auch die Worte, die er flüstert.
Er flüstert: »Da vorne, da vorne …«
Und wie es weitergeht.
Wie es weitergeht?
Das erfährt man.
Ganz zum Schluss.
Alice Clay ist sich sicher: Sie hat keinen Verstand. Aber vielleicht hat sie auch einfach nur viel zu viel davon. So weit sie zurückdenken kann, fällt es ihr schwer, vorwärtszudenken. Sie ist der Bruch in der Zeitrechnung. Eine längst gezogene Wurzel. Die Zahl am Ende der falschen Gleichung.
Und doch ist sie hier.
Alice Clay. Mädchen der Nachtgespenster, Mädchen der Zwischenräume. Sie kann die schönsten Sandburgen bauen, die höchsten Legotürme aufstapeln, die unglaublichsten Geschichten erzählen und den traurigsten Augenblick in ein Lächeln verwandeln. Sie kennt jedes Versteck im Schlosspark, jeden Hügel, jeden Busch. Sie weiß, wie man Zauberäpfel schneidet und Kunstblumen mit unsichtbarem Wasser gießt. Sie kann lautlose Geräusche mit Buntstiften umrahmen und fliegende Buttermilchpfannkuchen in uralten Hexenhauspfannen backen.
Und die Kinder?
Sie flüstern Alices Namen wie ein Geheimnis durch die Straßen der Stadt am Waldrand. Sie flüstern und flüstern, von dem einen Mädchen, das die ganze Welt auf einem Spielplatz zusammenhält.
Alice Clay. Sie hat überlebt, was andere sich nicht einmal vorstellen können. Sie ist entkommen, obwohl sie als verloren galt. Sie ist das Mädchen hinter der Zeit.
Sie ist das Warten.
Nach der Stille.
Und wie sie rennt und flüchtet und flieht, durch den Wald, ganz ohne ein Ziel. Wie sie läuft und läuft, so schnell sie nur kann; kein umgestürzter Baum, kein herabstürzender Ast, kein Laubberg, keine Schneewehe, kein Frühlingsgewitter, kein Mitsommernachtsgrauen – nichts kann sich ihr in den Weg legen.
Alice rennt einfach weiter. Durch das Unterholz, am Fluss entlang, über Felsen und Steine, bis hin zu der geheimen Lichtung.
Drei Bäume stehen dort.
Eine Kastanie.
Eine Linde.
Und eine Eiche.
Sie strecken ihre Äste dem Himmel entgegen, obwohl sie ganz genau wissen, dass sie ihn niemals erreichen werden. Sie stehen mit ausreichend Abstand zueinander, dass sie sich nicht gegenseitig das Licht nehmen oder das Wasser oder die Erde. Sie sind alle drei uralt, sie stehen schon seit Jahrzehnten an diesem Ort. Und wenn nicht ein unvorhersehbares Unglück geschieht, dann werden sie auch noch viele weitere Jahre dort auf der Zauberlichtung stehen und wachsen.
Alice streckt eine Hand aus. Ein Maikäfer landet auf ihrem Finger, ein paar Sekunden verweilt er, dann fliegt er davon. Sie sieht ihm nach. Nicht lange, aber lange genug, um zu sehen, dass sie ihn nicht mehr sehen kann.
Die Stunden vergehen.
Die Stunden verstreichen.
Die Stunden drehen sich um.
Sich selbst.
Alice Clay steht regungslos auf der Lichtung zwischen den drei großen Bäumen und lauscht auf das Zirpen der Wanderheuschrecken. Sie mag das Geräusch. Obwohl sie nicht weiß, woran es sie erinnert.
Sie mag viele Dinge, die sie nicht versteht.
Sie mag Regen und Sturm und Winternebel.
Und sie liebt ihren Vater, mit dem sie jeden Montag telefoniert, obwohl sie nie so genau weiß, was sie ihm erzählen soll, über ihr Dasein.
Und ihr Verschwinden.
Alice Clay. Das Mädchen mit dem zersplitterten Gehirn und den abgebrochenen
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