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Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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dass sie diese Worte am liebsten hätte. Daraufhin hat Valentin sich zwei Stunden lang weinend im Bad eingeschlossen, weil er dachte, dass seine Mutter sich mit jedem erwachsenen Menschen auf der Welt lieber unterhalten würde als mit ihm, und dass er von nun an alleine in der Stille vor sich hin leben müsste, bis er endlich ausgewachsen und wortreif genug für seine Mutter sei. Aber glücklicherweise ist Helena die geduldigste Mutter auf der Welt, und so hat sie es nach zwei Stunden geschafft, Valentin wieder aus dem Bad zu locken, und dann hat sie ihm erklärt, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Worten, die sie einbindet, und den Worten, die sie mit ihm verbindet, und dass die schönsten Worte auf der Welt sowieso die sind, die man nicht aussprechen muss, weil derjenige, dem man sie sagen will, sie mit seinem Herzen versteht.
    Und seit er das weiß, schlingt Valentin manchmal schweigend seine kleinen Arme um den Hals seiner Mutter, um ihr zu sagen, wie lieb er sie hat – ganz ohne einen einzigen Buchstaben.

    Valentin Fall. Er kann schneller eine Rutsche hochklettern als alle anderen Kinder in der Stadt am Waldrand, und er kann über zwanzig Runden auf dem Karussell drehen, ohne dass ihm schlecht oder schwindlig wird. Aber noch lieber als auf dem Spielplatz ist er im Schwimmbad und steckt dort seinen Kopf unter Wasser, um mit seiner quietschroten Taucherausrüstung durch das kleine Becken zu schnorcheln, bis seine Mutter kommt und ihn aus seinem imaginären Meer fischt, weil sie Angst davor hat, dass ihm eines Tages Schwimmhäute und echte Flossen wachsen. Ja. Manchmal ist Helena etwas zu besorgt. Manchmal hat sie sogar Angst davor, dass er zu müde werden könnte von dem bisschen Wasser, und einfach untergeht. Da bringt es gar nichts, wenn Valentin ihr erklärt, dass man überhaupt nicht müde werden kann, wenn es gerade so spannend ist wie unter Wasser. Aber das sind Mütter: Sie haben so viele Sorgen, dass man als Kind gar nicht mehr damit hinterherkommt, alle zu vertreiben. Und deshalb hat Valentin festgestellt, dass es am einfachsten ist, zwischendurch aus dem Becken zu kommen, sich trockenrubbeln zu lassen und ein bisschen beim Springturm zuzugucken, bevor man wieder zurück in die Weite des Meeres tauchen kann.

    Valentin Fall. Er liebt seine Mutter sehr. Und er findet es auch okay, dass sie manchmal Sachen zum hundertsten Mal sagt, die er schon vor dem ersten Mal verstanden hat. Zum Beispiel die Sache mit den Autos und der Straße, und dass man keine Wasserbomben aus dem Fenster werfen darf. Denn Valentin guckt immer nach links und rechts und links und rechts und immer weiter, bevor er über die Straße geht. Und das mit den Wasserbomben? Das war damals mehr ein Fallen als ein Werfen gewesen, und getroffen hat er auch niemanden, weil es ja nur ein Spaß gewesen ist. Aber jedes Mal, wenn Helena Valentin alleine zu Hause lässt, sagt sie zu ihm: »Und du schmeißt diesmal KEINE Wasserbomben auf vorbeilaufende Passanten. Hörst du?«
    Ja. Natürlich hört Valentin. Aber manchmal glaubt er, wenn er den blöden Wasserbombensatz noch oft hören muss, dann kann er gar nicht anders, als wieder einmal ein paar Wasserbomben fallen zu lassen.
    Einfach nur so.
    Ganz aus Versehen.

    Valentins liebste Jahreszeit ist der Sommer, denn dann darf er immer für zwei Wochen seine Großeltern besuchen, obwohl seine Eltern jedes Mal schreckliche Angst davor haben, dass Valentin als süßigkeitengedoptes Ungeheuer wieder zurückkehrt. Aber Valentins Mutter hat sogar Angst davor, dass Valentin eines Tages von Lucky gefressen werden könnte. Dabei ist Lucky nur ein kleiner hässlicher Pudel, mit dem Valentin manchmal im Hof spielen darf. Helena guckt dann ständig aus dem Fenster, um sicherzugehen, dass Valentin und Lucky nicht zu sehr herumtoben. Das versteht Valentin beim besten Willen nicht; er findet sich nämlich selbst sehr friedlich. Er hat in seinem ganzen Leben erst zwei Fensterscheiben zerschossen, eine Nacktschnecke platt getreten, dreimal Zahnpasta unter die Türklinke des unfreundlichen Nachbarn geschmiert, ein Bonbon im Zeitungsladen gestohlen und siebenmal nachts heimlich Fernsehen geguckt. Andere Kinder machen viel schlimmere Sachen. Das weiß Valentin, weil es in der Schule einen Club gibt. Es ist ein geheimer Club, dem nur Schüler beitreten dürfen, die schon richtig schlimmen Unfug gemacht haben. Wenn man nicht mindestens einen Tadel, fünf Klassenbucheinträge und drei beschmierte Wände vorweisen

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