Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
hat, erzählt Valentin Helena von Pax. Jetzt weiß er nämlich, wie es dort aussieht: Es ist ein Planet, der nur dem Tod gehört. Alle Bewohner stammen von irgendwelchen Planeten, auf denen sie einmal gelebt haben, bis sie schließlich gestorben sind. Aber nun sind sie Paxaner, und natürlich sind viele von ihnen sehr traurig, weil jeder Tod mit Abschied verbunden ist und weil es niemals leicht ist, loszulassen, davonzugehen, einen letzten Augenblick zu erleben. Aber irgendwann, mit der Zeit, kommt eine neue Zeit. Und diese Zeit wäre niemals gekommen, wenn die andere nicht vorbeigegangen wäre.
Deshalb ist es schön auf Pax.
Trotz all dem Tod.
Das erzählt Valentin, weil er fühlt, dass seine Mutter heute so eine Geschichte braucht, um das Leben ganz fest zu halten. Denn er weiß, dass Helena oft Angst davor hat, dass ihm etwas passieren könnte. Genau wie alle anderen Mütter auch. Dabei kann sie gar nicht mehr tun, als aufzupassen, so gut, wie sie kann. Und wenn sie Glück haben, dann reicht das aus, um unbeschadet vorbeizukommen, an betrunkenen Autofahrern, an reißenden Flüssen und an einschlagenden Menschen. Aber wenn es nicht so ist, wenn sie Pech haben, dann wird keine Angst der Welt das verhindern. Und weil der Tod das Ende eines jeden Lebens ist, wird er wohl nichts dagegen haben, wenn jedes Leben bis hin zum Tod unsterblich ist.
Das bedeutet nichts weiter.
Als alles.
Was wir wissen.
Und nachdem Valentin genug von Pax berichtet hat und sich zufrieden eine riesige Gabel voll Toast Hawaii in den Mund schiebt, erzählt Helena ihm ein kleines bisschen von dem traurigen Manuskript, in dem ganz viele Menschen sterben. Sie erzählt von einem kleinen Jungen, der seinen besten Freund vermisst, und von einem Mädchen, das viel zu früh an Krebs stirbt. Dann erzählt sie von der Mutter, die ihre Tochter nie mehr wiedersehen wird, und von einem Mann, der den Halt zu seinem Leben verliert. Und während Helena sich erinnert, an all diese Menschen, die sie nur von den Worten aus ein paar bedruckten Seiten kennt, da fällt ihr mit einem Mal auf, dass diese Geschichten sie genau so berühren, wie sie geschrieben wurden – nicht als Buch, das man in einem Atemzug durchliest, nicht als Text, den man mit Leichtigkeit verschlingt, sondern Geschichte für Geschichte, ein ganzes Leben, verfangen in einem großen Ganzen, mit einer Erkenntnis, zum Ende hin so schön und traurig zugleich, dass fernab der Zeit und der Stille ein jedes Wort von Hoffnung spricht.
Denn wofür schreibt ein Mensch über den Tod, wenn nicht, um den Lebenden eine Chance zu geben, zu verstehen, wie dieser Ort heißt, an dem alles, alles vergeht, und wie groß und weiträumig er ist. Wie namenlos. Wie unerkannt.
So unendlich fern.
Und doch so nah.
Gezeiten.
Und da muss Helena auf einmal lächeln, weil sie verstanden hat, wie dieses Manuskript enden wird, und was es bedeutet, einer Geschichte vom Tod zu lauschen, die mitten im undurchsichtigen Raum des Lebens spielt.
Ja, sie weiß: Kein Dasein ist ein Versprechen an die Zukunft, für immer zu bleiben – aber jedes Dasein bestätigt die Gegenwart.
Und was mehr können wir haben.
Als Zeit.
Valentin Fall. Ein Junge, mitten im Leben. Er schneidet das letzte Stück von seinem Toast Hawaii durch und legt das größere auf Helenas Teller. Sie lächelt, pikt ihre Gabel hinein und hält es Valentin vor den Mund. Er lacht. Dann nimmt er den Bissen zwischen die Zähne und greift dabei mit seinen Fingern nach dem letzten Stück auf seinem Teller; kurz darauf schiebt er es seiner Mutter in den Mund, und sie beißt ihm mit Absicht ein kleines bisschen auf seinen Finger. Da lacht Valentin noch mehr, so sehr, dass er eine Hand auf seinen kleinen Bauch pressen und sich an der Tischkante festhalten muss, um nicht vom Stuhl zu fallen. Einen Augenblick lang ist die Ewigkeit so nah und schön, dass er sie fühlen kann. Am Himmel vor dem Fenster zieht eine Kranichwolke vorbei, so groß, dass Valentin ihr mit großen Augen hinterherblickt. Und dann hört er auch schon den Schlüssel seines Vaters in der Wohnungstür rasseln.
Valentin Fall. Der phantasievollste Junge in der Stadt am Waldrand. Und weil er derjenige ist, der das Glück der Welt zugeschrieben bekommen hat, wird sein Leben fernab des Todes verlaufen und nicht über die Schlaglöcher der Zeitfinsternis stolpern. Natürlich wird auch er manchmal weinen, natürlich wird es auch in seinem Leben Trauer und Schmerz geben; er wird Fehler machen und
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