Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

falsche Entscheidungen treffen, er wird sich in ein Mädchen verlieben, das ihn verlässt, bevor er das eine Mädchen findet, auf das er sich immer verlassen kann. Er wird zwei Jahre lang etwas studieren, womit er anschließend nie wieder etwas zu tun haben will, er wird sechzehn Strafzettel bekommen, einmal betrunken in einem fremden Treppenhaus aufwachen, zwei Wochen lang mit einer Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus liegen und beim Losziehen immer nur Nieten abbekommen.
    Aber abgesehen davon.
    Wird sein Leben wunderschön verlaufen.
    Und sollte ihn jemals jemand fragen, ob er etwas ändern würde, oder tauschen, und seien es auch nur ein paar kaputte Minuten – er würde verneinen.
    Aus Respekt.
    Vor jeder einzelnen Sekunde.
    Und weil er sie erkannt hat: die Zusammenhänge.
    Die den Faden unseres Lebens gespannt halten.

    Und natürlich wird auch Valentin Fall eines Tages sterben.
    Genau wie seine Eltern und alle anderen Menschen.
    Aber bis dahin.
    Ja. Bis dahin.
    Ist unendlich viel Zeit.

21
    E ine junge Frau flüstert lautlose Worte in den Wind. Sie ist auf dem Weg nach Hause. Es war ein langer Tag, und eine lange Nacht.
    Sie murmelt stumm vor sich hin, damit sie nicht einschläft vor Erschöpfung. Sie wispert schweigend der Nacht entgegen, weil sie dunkel und verhangen die Straßen versperrt.
    Sie ist müde. Todmüde.
    Von einem schrecklichen Tag.
    Von einer schrecklichen Nacht.

    Wenig später erreicht sie ihre Wohnungstür. Erleichtert steckt sie den Schlüssel ins Schloss und betritt kurz darauf ihr vertrautes Zuhause. Ihr Magen knurrt. Sie hat seit Stunden nichts gegessen, sie hatte keine Zeit dafür. Denn heute ist ein Unglück nach dem anderen geschehen. Menschen sind gestorben, Menschen haben überlebt und wollten nicht mehr weiterleben, Menschen haben zu leben begonnen und sind dann plötzlich doch noch gestorben.
    So viel Tod.
    In so kurzer Zeit.
    So viele Lebensgeschichten.
    Auf so wenig Seiten.
    Sie legt sich auf ihr Bett. Sie kann jetzt nichts essen, auch wenn ihr Magen vor Hunger schmerzt. Ihr Kopf ist wie betäubt und schwindlig von den unendlichen Kreisen. Denn sie hat heute Stunde um Stunde auf einen jungen Mann eingeredet, der verloren in seinen Gedanken mit dem Tod verhandeln wollte.
    Aber die Trugbilder, die der Tod aufzeichnet, sie verzeichnen nichts weiter.
    Als Schall und Rauch.

    Lisa Haze. Die jüngste Ärztin in der größten Klinik der Stadt am Waldrand. Sie hat ein Herz, so zauberhaft und schön wie das Licht der Wintersonnenwende, auch wenn es oft dunkel wird um sie herum.
    Wenn sie nicht arbeitet, dann besucht sie ihre Schwester und geht mit ihr und ihrem etwas verbeult aussehenden Pudel Lucky spazieren. Sie laufen niemals zum Schlosspark, obwohl Lucky ständig an seiner Leine zieht und versucht sie dorthin zu führen. Aber Lisas Schwester hat Angst vor dem Schlosspark, zu viele Erinnerungen hängen dort an einem Baum. So viel hat sie dort verloren, an einem einzigen toten Ast. Also gehen sie stattdessen immer in den Wald bis hin zu der geheimen Lichtung. Dort stehen sie dann zwischen den drei flüsternden Bäumen und blicken hinauf in den weiten Himmel. Lisas Schwester weint jedes Mal, und Lisa weiß, dass sie sie nicht trösten kann.
    Denn Lisa kennt das Leben.
    Und Lisa kennt den Tod.
    Sie sieht jeden Tag, was er anrichtet, was er hinterlässt und was für blutige Spuren er zieht.
    Bis weit in die Tiefen.
    Dieser Stadt am Waldrand.

    Vielleicht. Ganz vielleicht.
    Vergeht die Zeit unsichtbar.
    Wir dürfen nur nicht.
    Hinsehen.

22
    K evin Pierce sitzt in seinem Büro und hat Kopfschmerzen. Heute haben ihn alle Menschen genervt. Vom Elektriker über den Grafiker bis hin zu seiner Sekretärin konnte es ihm an diesem Tag keiner recht machen. Aber vielleicht liegt das auch einfach an ihm selbst; denn er ist zwar Architekt, wie er es immer sein wollte, doch sein Job besteht nicht darin, ausgefallene Häuser oder phantasievolle Bauwerke zu entwerfen, so wie er es sich einmal erträumt hat. Nein – der Markt ist überfüllt, und deshalb hat er sich gezwungenermaßen auf Messebau und Hallenarchitektur spezialisiert, obwohl ihn beides nicht im Geringsten interessiert.
    In der kleinen Firma, die Kevin Pierce leitet, geht zurzeit alles drunter und drüber. Entweder gibt es wochenlang keine Aufträge, oder es kommen so viele auf einmal herein, dass Tag und Nacht gearbeitet werden muss, damit die Deadlines eingehalten werden können. Heute ist so ein Deadlinetag. Die Zeit war knapp