Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
seine Stirn und blickt erschöpft auf seine Armbanduhr, als die beiden Frauen endlich gehen. Tatsächlich: zwei volle Stunden. Keinen Augenblick weniger. Er seufzt und schüttelt seinen Kopf. In diesen zwei Stunden hätten die beiden nach Hause gehen können, die Scheidungspapiere in doppelter Ausführung unterschreiben, Koffer und Umzugskisten packen, im Internet nach einer neuen Wohnung suchen, die Mitgliedschaft in einem Dating-Forum für Singles erwerben und ganz nebenbei auch noch ein neues Leben beginnen können.
Kevin Pierce seufzt erneut und starrt mit glasigen Augen auf den kaum angerührten Kuchen, dabei schmeckt er wirklich gut, fast wie bei seiner Mutter. Das muss er zugeben. Und wenn er genauer darüber nachdenkt, dann wird ihm plötzlich bewusst, dass er ein sehr schönes Leben führt. Seine Frau ist liebenswert und hübsch, sein Sohn ist aufgeweckt und fröhlich. Sein Job ist eigentlich ganz okay, er verdient zwar schlechter als einige andere Architekten, aber wesentlich mehr als viele seiner Mitmenschen. Und das mit den Häusern kann schließlich immer noch etwas werden, denn er ist jung und voller Ideen. So gesehen hat er keinen Grund zur Beschwerde.
Kevin Pierce’ Miene hellt sich ein wenig auf.
Er denkt weiter über sein Leben nach.
Er hat wirklich Glück.
Seine Angestellten sind allesamt fähige Menschen, entgegenkommend und höflich. Es gibt kaum Streitereien, nur hin und wieder kleine Meinungsverschiedenheiten, die sich meistens auf die engstirnigen Auftraggeber beziehen und nur selten etwas mit der Firma zu tun haben. Außerdem ist sein bester Freund Martin Grey endlich von einer zweijährigen Weltreise zurückgekehrt und erzählt jedes Mal eine wunderbare Geschichte, wenn sie sich sehen. Und damit sind richtige Geschichten gemeint – so kunstvoll ausgeschmückt wie die aus Tausendundeiner Nacht und so ehrlich wie die handverlesene Zeit.
Es sind wahre Abenteuer.
Tiefgründig bis zum Meeresboden.
Weitreichend wie die Strände am Pazifik.
Und so hoch wie die ausschlagenden Wellen.
Kevin Pierce beginnt zu lächeln. Kaum merklich zwar, aber dennoch offensichtlich, verändert sich seine Verfassung. Er ist glücklich. Denn er hat endlich Zeit. Und er nutzt diese wunderbare Zeit, um dort an dem kleinen Tisch zu sitzen, in diesem lauschigen kleinen Café, um sein Leben zu überdenken. Und während die freundliche Kellnerin mit den langen gewellten Honighaaren die heruntergebrannte Kerze auf seinem Tisch gegen eine neue austauscht, fängt Kevin Pierce’ Herz mit einem Mal an, munter zu schlagen.
Ja! Er hat ein gutes Los gezogen.
Er liebt diese Zeit.
Er würde sie niemals eintauschen wollen.
Und deshalb wird er jetzt zurück in sein Büro gehen und seinen unordentlichen Schreibtisch aufräumen. Er wird sich bei seinen Angestellten bedanken, für die angenehme Zusammenarbeit, trotz der Anspannung der letzten Tage, und er wird seiner großartigen Sekretärin eine Schachtel Pralinen und eine Flasche guten Wein mitbringen. Denn Kevin Pierce weiß, dass sie eine bodenständige und liebenswerte alleinerziehende Frau ist, die jeden Tag hart arbeitet, um ihren beiden Töchtern ein gutes Leben zu ermöglichen. Und er weiß auch: Es ist noch gar nicht lange her, da hatte sie drei Töchter.
Sarah, Jessica.
Und Jenny.
Kevin Pierce fährt sich mit einer Hand durch die Haare und reckt sich. Endlich geht es ihm wieder besser. Denn er hält sein Leben fest in den Händen und entscheidet selbst über die Beschaffenheit dieser Wege, auf denen er seinen Lebenslauf vollbringt.
Er kann alles erreichen, was er will.
Alles. Und noch viel mehr.
Kevin Pierce lächelt zufrieden. Das ist die Glückseligkeit der Empfindungen. Sie ist wankelmütig in ihrer Erscheinung, aber wenn sie stark ist und schön, dann ist sie stärker und schöner als alles andere.
Kevin Pierce bestellt einen weiteren Espresso mit Milchschaum und verspeist anschließend mit Appetit den Rest des Kirschmandelkuchens bis auf den letzten Krümel. Dann zieht er sein Portemonnaie hervor, gibt ein großzügiges Trinkgeld und steht auf, um das Café zu verlassen. Ihm fällt ein, dass er am Abend, auf dem Weg nach Hause, auch noch ein paar Blumen besorgen könnte, für seine Frau, und ein Stofftier, für seinen Sohn.
Ja. Das ist eine gute Idee.
So wird er es machen.
Kevin Pierce. Leitender Geschäftsführer und Gründer von Art Work Technologie, einem kleinen Architekturbüro mitten im Zentrum der Stadt am Waldrand. Er ist gut
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