Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
bemessen, aber sie hat ausgereicht. Trotzdem hat Kevin Pierce seit der Projektvorstellung um zwölf Uhr schlechte Laune, denn er hat zwei Wochen lang ohne Pause durchgearbeitet, weder Frau noch Sohn zu Gesicht bekommen, abgesehen von einem kurzen Guten-Morgen-Gruß, bei dem er viel zu verschlafen war, als dass man ihn hätte mitzählen können, und er ist auch noch kein einziges Mal dazu gekommen, seinen Schreibtisch aufzuräumen und seine Post durchzusehen.
Als nun zu allem Übel Kevin Pierce’ Telefon im Minutentakt zu klingeln anfängt, abwechselnd mit seinem Handy, hat er endgültig keine Lust mehr. Er reißt den Stecker des Telefonkabels aus der Wand, schaltet das Handy aus und geht zu seiner Sekretärin, um zu verkünden, dass er eine zweistündige Mittagspause einlegen wird, um seine Gedanken zu sammeln.
Die Sekretärin nickt verständnisvoll. Auch sie ist überarbeitet und todmüde, aber sie kann es sich leider nicht leisten, eine Pause zu machen, denn sie hat noch viel zu tun und möchte pünktlich nach Hause, damit sie für ihre Töchter ein schönes Abendessen kochen kann. Also nickt sie ihm nur freundlich zu und macht sich gleich weiter an den Stapel mit Kontoauszügen und Rechnungspapieren.
Kevin Pierce hängt seine gestreifte Krawatte im Flur an die Garderobe, bevor er das Bürogebäude verlässt. Sie hat ihn eingeengt, und er möchte endlich atmen, ohne dass sich dabei sein gesamter Hals zusammenschnürt. Im Laufen öffnet Kevin Pierce auch noch den obersten Knopf seines weißen Hemdes, krempelt die Ärmel ein Stückchen hoch und blinzelt schließlich erleichtert in die Sonne.
Überall rennen Menschen umher, denn das Büro befindet sich direkt im Zentrum nur wenige Schritte von der Einkaufsmeile entfernt. Kevin Pierce schiebt sich an zwei Skatern vorbei, hält im Vorbeigehen einer alten Frau die Tür zu einem Laden auf, stößt mit einem Glatzkopf zusammen, der gerade lautstark in sein Handy schimpft und dabei Kaffee über seinen Anzug und den Gehweg verschüttet.
Hektisch und voller Trubel.
Fremde Gesichter und fremde Zeiten.
So ist es immer, in der größten Einkaufsstraße in der Stadt am Waldrand; Kevin Pierce hat sich längst daran gewöhnt. Aber heute kann er die vielen Menschen nicht ertragen, sie geben ihm das Gefühl, ein Mitläufer der breiten Masse zu sein, also biegt er in eine der kleinen Seitenstraßen ab. Sofort wird es etwas ruhiger um ihn herum, das unverständliche Gemurmel und das Hupen der Autos dringen nur noch aus dem Hintergrund zu ihm vor.
Kevin Pierce seufzt erleichtert.
Das ist alles, was er jetzt möchte.
Ein bisschen Ruhe, ein bisschen Zeit – keine Eile, kein Stress, und keine klingelnden Handys.
Wenig später sitzt Kevin Pierce in einem gemütlichen Café, in dem er noch nie zuvor gewesen ist. Es liegt drei Blocks weiter in einer winzigen Seitengasse und wirbt mit hausgemachten Kuchen wie bei Mutter. Kevin Pierce erinnert sich sofort an den wunderbaren Kirschkuchen, den seine Mutter früher jedes Wochenende gebacken hat; und so sitzt er nun in dem kleinen Café und stochert in einem Stück Kirschmandelkuchen herum, obwohl er nicht den geringsten Appetit verspürt.
Neben ihm sitzen zwei Frauen. Sie sind Mitte vierzig und unterhalten sich aufgebracht über ihre Ehemänner. Die eine kann ihren Mann nicht leiden, weil er raucht, mittlerweile einen Bierbauch hat, immer zu spät von der Arbeit nach Hause kommt, niemals das Bett macht und keine Ahnung von zeitgenössischer Kunst hat. Die andere kann ihren Mann nicht leiden, weil er sie gerade erst mit der Nachbarin betrogen hat, jedes Wochenende besoffen von einem Fußballabend mit seinen Kumpels nach Hause kommt, ständig flucht und sich kaum um die beiden Kinder kümmert.
Einen Moment lang überlegt Kevin Pierce, ob die beiden wohl den gleichen Ehemann haben und gar nichts davon wissen. Irgendwie findet er diese Vorstellung ziemlich amüsant. Aber ihm ist nicht nach Lachen zumute, und so hört er einfach weiterhin mit einem Ohr zu, wie die beiden Frauen schimpfen und schimpfen, während er nachdenklich an seinem Espresso nippt.
Zwei Stunden lang.
Sitzen die beiden Frauen in dem Café neben Kevin Pierce und regen sich über ihre Männer auf. Zwei Stunden lang haben sie mürrische Gesichter und fühlen sich vom Leben schlecht behandelt. Zwei Stunden lang sagen sie kein einziges fröhliches Wort.
Sie lachen nicht, sie leben nicht.
Sie existieren kaum.
Zwei Stunden.
Eine Ewigkeit.
Kevin Pierce runzelt
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