Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Moment sich in die Ewigkeit verwandeln kann und wieder zurück, ohne dass man merkt, wie sehr sich alles um einen herum verändert.
Serena White. Sie hat gelernt, dass sie ein unnahbares, todeshungriges Mädchen sein kann, das dem Leben den Rücken zukehrt, nur um eine Gratwanderung auf dem Strich der Modescheinwelt zu vollziehen. Sie hat sich mitreißen lassen, von den reizvollen Bildern der Vogue, sie hat sich fortreißen lassen, von dem, was sie wirklich wollte, und sie hat sich zerreißen lassen von dem, was sie auf einmal war.
Serena White. Sie hat aus ihren Fehlern gelernt. Sie hat erkannt, wer sie nie wieder sein möchte, und dass es in ihren Händen liegt, an welche Werte sie sich von nun an halten wird. Sie hat verstanden, wie schön es ist, eine Familie zu haben, die einen zurückkehren lässt, aus der hässlichen Abgeschiedenheit, in die man sich selbst verbannt hat.
Aus Eitelkeit, aus Einsamkeit.
Aus einer Laune heraus.
Von einem Fehler.
In den nächsten.
Stolpernd.
Serena White. Jeden Morgen steht sie um sieben Uhr auf und deckt den Frühstückstisch für sich und ihre Mutter. Sie schneidet etwas Obst, sie toastet Brot, sie gießt Saft und Kaffee ein. Sie bemüht sich darum, wieder aufrichtig zu leben; nicht mehr davonzulaufen, vor dem Ort, an dem sie aufgewachsen ist und den sie liebt.
Am Wochenende geht Serena mit ihrem Vater spazieren. Er freut sich jedes Mal, sie zu sehen, und bietet ihr immer wieder an, dass sie ihn doch auch ab und zu mal in seiner Mittagspause besuchen könnte. Serena ist sein einziges Kind, mit seiner neuen Frau ist er zwar schon lange verheiratet, aber sie möchte keine Kinder haben, obwohl er sich sehr darüber freuen würde. Und damals, als Serena unerreichbar durch die Welt gezogen war, von einem Shooting zum nächsten, von Laufsteg zu Laufsteg, da hatte er sie an jedem Tag vermisst und sich nichts mehr gewünscht als ihre Rückkehr.
Serenas Vater. Er ist Kardiologe, er hat ständig sterbende Menschen um sich. Gerade in dieser Zeit betreut er einen jungen Mann, der nur noch wenige Monate zu leben hat. Er ist talentiert, zuvorkommend, freundlich und voller Lebensmut. Serenas Vater erzählt Serena davon und von dem Schmerz, der ihn jedes Mal erfüllt, wenn der junge Mann mit dem Herzfehler zu ihm kommt. Dann fragt er Serena, wie es ihr geht und ob es weitergeht, mit dem Studium. Serena nickt und lächelt. Sie hat in allen Prüfungen gut abgeschnitten, und sie hat aufgehört zu hungern. Der Vater lächelt erleichtert.
Er weiß, wie krank ein Körper werden kann.
Er weiß es allzu gut.
Serena White und ihr Vater wandern am Fluss entlang in Richtung Schlosspark. Am Ufer steht eine junge Frau und blickt den Enten nach, die sich gemächlich flussabwärts treiben lassen. Die Frau sieht traurig aus, gefangen in einer Erinnerung, verloren in einem abgeschiedenen Augenblick. Aber sie hält eine Hand auf ihren schwangeren Bauch gepresst und blinzelt der Strömung entgegen.
Serena fragt sich.
Was die Frau wohl verloren hat.
Dass sie so sehnsüchtig in die Tiefe blickt.
Wenig später erreichen Serena und ihr Vater auch schon die Wiese am Schlosspark, und da sagt ihr Vater gedankenversunken: »Als Kind hast du hier gerne gespielt. Erinnerst du dich noch daran?«
»Ja, na klar«, antwortet Serena lächelnd. »Aber damals war die Wiese größer und die Blumen und die Bäume auch.«
Serenas Vater lacht.
»Wie schnell du erwachsen geworden bist«, sagt er schließlich leise – mehr zu sich selbst als zu ihr. Denn er weiß noch genau, wie winzig seine Tochter einmal gewesen ist, damals, als er noch dachte, er könnte sie vor jedem Unheil auf der Welt bewahren, wenn er ihr nur rechtzeitig die Weisheiten der Zeit weitergeben könnte. Aber wie sich herausgestellt hatte, haben alle Menschen eines gemeinsam: Sie suchen sich die Fehler selbst aus, die sie begehen wollen.
Serena hat sich wieder in der Stadt am Waldrand eingelebt. Sie ist froh, jeden Morgen in ihrem Bett aufzuwachen, und nicht in einem fremden Hotelzimmer. Sie hat das viele Geld, das sie in den letzten Jahren verdient hat, gut angelegt und konzentriert sich auf ihr Studium und einen Töpferkurs, den sie seit kurzem besucht.
Es ist ein schönes Gefühl, wieder am Leben zu sein.
Es ist ein Glück, sich zu seiner Zeit zu bekennen.
Das weiß Serena mit Sicherheit.
Denn sie hat einen Verstand, der eigenständig zu seinen Gedanken steht und auch zu den Fehltritten, die sie begangen hat. Nur hin und wieder ist
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