Dabei und doch nicht mittendrin
Sicht denkbar schlechte Voraussetzungen. So wird lediglich die externe Motivation (weiterhin Leistung zu beziehen oder Bestrafungen zu entgehen) aufrechterhalten, nicht jedoch die intrinsische Motivation, die Freude am Lernen und die damit verbundene individuelle Horizonterweiterung unterstützt. Nicht nur eine ordnungspolitische, sondern auch eine psychologische Herangehensweise könnte hier Abhilfe schaffen. Darüber hinaus gilt es, bisherige Integrationsleistungen und -maßnahmen durch wissenschaftliche Begleitung und Auswertung zu flankieren und Förderungen gezielter einzusetzen.
Familie, Erziehung und Jugend
In der westlich geprägten erziehungspsychologischen Forschung wird davon ausgegangen, dass ein autoritativer Erziehungsstil – damit ist eine hohe Zuwendung, Unterstützung, Wärme, hohe Selbstständigkeit bei gleichzeitig hohen Forderungen an das Kind gemeint – sich als optimal für die Entwicklung des Kindes erweist. Dagegen wird ein autoritärer Erziehungsstil (rigide Durchsetzung der elterlichen Autorität, geringe Selbstständigkeit und hohe Kontrolle des Kindes) als eher ungünstig für die Entwicklung eingeschätzt. 46 Kulturpsychologische Studien zeigen aber, dass eine autoritative Erziehung für europäische und nordamerikanische Kinder zwar den optimalen Erziehungsstil darstellt, unter anderem, weil dieser zu einer höheren sozialen Kompetenz und höherer Selbstständigkeit führt. Dies konnte andererseits in dieser Form für chinesische und andere Kinder mit Migrationshintergrund nicht nachgewiesen werden. 47 Es gibt Hinweise, dass ein direktiver Erziehungsstil unter bestimmten Umständen, insbesondere wenn das Kind in entwicklungsgefährdenden und delinquenzförderlichen Umwelten aufwächst, was in einigen Fällen für türkische Jugendliche zu vermuten ist, durchaus funktional und sinnvoll sein kann. Das heißt: Hier sollten Eltern sehr klar Normen und Erwartungen formulieren, eine straffere Lenkung und Kontrolle des Alltags ihrer jugendlichen Kinder verfolgen, indem sie diese zum Beispiel fragen, wo sie hingehen, was sie machen und mit wem sie sich treffen werden, oder sie anweisen, wann sie nach Hause zu kommen haben. 48
Insofern ist eine bruchlose Übertragung der Wirkungen bestimmter Erziehungsstile und -praktiken auf die kindliche Entwicklung in unterschiedlichen kulturellen Kontexten problematisch.
Dennoch gilt es aber, aus entwicklungs- und familienpsychologischer Sicht, auf folgende riskante Bedingungen des Aufwachsens und Erziehens in türkischen beziehungsweise Migrantenfamilien hinzuweisen:
1. Die materielle Ausstattung von Migrantenfamilien ist ein wichtiger Indikator, um auch Erziehungs- und Integrationsfolgen besser abschätzen zu können: Arme Kinder aus Migrantenfamilien haben ein doppelt so großes Risiko, desintegriert oder gering integriert zu sein als Kinder aus einer Familie mit einem Durchschnittseinkommen. 49
Mit Blick auf das Finanzkapital wiesen in der Studie des Deutschen Jugendinstituts 54 Prozent der türkischen Familien ein Haushaltseinkommen auf, das zu den untersten 10 Prozent des Äquivalenzeinkommens aller Haushalte gehörte; dieser Satz lag bei deutschen Familien bei 7 Prozent. Dagegen hatten 48 Prozent aller deutschen, aber nur 20 Prozent aller türkischen Familien ein mittleres Haushaltseinkommen. 50
2. Ein häufiges entwicklungspsychologisches Risiko in Migrantenfamilien stellt aus der Sicht des Kindes das Aufwachsen in einem großen Geschwisterverband mit geringen Altersabständen dar. Zum einen droht bei einem Altersabstand von weniger als zwei Jahren in der Geschwisterreihe die Gefahr der Übersozialisierung und Vernachlässigung typisch kindlicher Bedürfnisse des älteren oder des ältesten Kinds: Eltern betrachten vielfach dieses Kind als deutlich reifer, kompetenter, genügsamer, weil sie es intuitiv häufig mit dem jüngeren beziehungsweise jüngsten Kind vergleichen. Zum anderen ist das Risiko einer spannungsreicheren Adoleszenz bei Altersabständen unter zwei Jahren höher als bei Geschwistern mit größerem Altersabstand. Das betrifft natürlich nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund, aber einige empirische Daten – wenngleich nicht repräsentativ – zeigen auffällige Tendenzen: Während lediglich 24 Prozent der deutschen acht- bis neunjährigen Kinder Altersabstände unter zwei Jahren zu einem benachbarten Geschwisterhatten, betrug diese Rate bei Migrantenkindern etwa 80 Prozent. 51 Nicht zuletzt berührt eine hohe
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