DACKELKRIEG - Rouladen und Rap
formbar, so ließ mich die Tanzlehrerin wissen, und mir fehle auch sonst nichts, denn ich hätte ja zwei Arme, zwei Beine, mehrere Augen und ziemlich lange Haare, die man sehr gut zu einem Dutt zusammenbinden könne, aber das wäre ihr scheißegal. Was mir fehle, das wäre die Disziplin und die Contenance, sagte Frau Dingsbums mit unbeweglicher Miene. Ich fragte genauer nach. „Alleine schon, dass du nachfragst und das nicht einfach akzeptierst, kleine Madame!“ „Aber was denn?“ „Schau dich doch an! Deine, wie soll ich sagen, Gossensprache, Mädchen!“ Damit war das Thema für sie vom Tisch und meine Euphorie für Ballett ein für alle Mal gestorben. Ich zog das von meiner Nachbarin geliehene Tutu aus, meine Flickenjeans und den
He-Man
Pullover wieder an und ging entschlossen nach Hause, wo ich Mutter überredete mir einen Boxsack zu kaufen.
Der Boxsack kam dann auch. Aber erst einige Monate später an Weihnachten und als Geschenk für meinen älteren Bruder. Ein vierzig Kilogramm schweres blaues Ledermonster, das mit kleinen Korkkügelchen gefüllt war, in die sich später, laut Mutter, Mäuse eingenistet hätten - also in den Boxsack, denn mein Bruder bestand damals aus Fleisch. Mäuse waren ohnehin eine ihrer größten Ängste. Das schlimmste Szenario war für sie kein Brand, in dem die gesamte Familie in den Flammen ums Leben kommt, sondern eine sterbende Maus, die unter die Dielen im Kinderzimmer krabbelt und dann dort stirbt, verwest und merkwürdig riecht. Man würde die Dielen alle herausreißen und das ganze Zimmer kernsanieren müssen. Ach, was rede ich denn da, es wäre einfach eine undenkbare Katastrophe und wir würden umziehen müssen. Der Ausnahmezustand. Dann doch lieber tot.
Der Boxsack hing an einem Haken an der Kinderzimmerdecke. Dort konnte ich wahlweise auch eine handelsübliche Schaukel oder eine Hängematte befestigen, je nachdem welches Aggressionslevel ich derzeit pflegte. Der Boxsack war mein Endgegner und ich drosch Tag und Nacht mit geballten Kinderfäusten und ohne Boxhandschuhe auf das Ding ein, als wäre es eine Art finale Eskalation meiner Lebenswut. Wenn ich mal nicht boxte oder rauchte, war ich zart wie ein Lämmlein, hängte die harmlose Schaukel auf und hörte eine meiner tollen CDs, die ich seit Kurzem besaß:
Bravo Hits
oder
Kelly Family
. Ich war ein Megafan der langhaarigen Familie und ein paar Jahre später war es mir unglaublich peinlich, obwohl ich heute der festen Überzeugung bin, dass die schmuddeligen Inzestmusikanten hinsichtlich
Backstreet Boys
und
Boyzone
definitiv das kleinere Übel gewesen sind. Was war schon verkehrt an ein paar schlecht gekleideten Halbwaisen, die anstatt zur Schule zu gehen, von ihren Erziehungsberechtigten gezwungen wurden, den ganzen Tag
Rotbäckchensaft
zu trinken und Dudelsack zu spielen?
Mein Liebling war der kleine
Angelo Kelly
, denn wir sahen uns sehr ähnlich. Fast schon wie eineiige Zwillinge. Wenn ich die Schrauben meiner losen Zahnspange immer weiter selbst justiert hätte, wie es der ursprüngliche Plan gewesen war, hätte ich heute auch so eine hübsche Zahnlücke, aber mir fehlte damals leider das Feinwerkzeug und die Muse perspektivisch zu denken. Alles was ich stattdessen besaß war
Kelly Familiy
Merchandise im mehrstelligen Tonnenbereich und Mundgeruch von der losen Zahnspange, an der im Laufe des Tages in der großen Plastikdose, in die mir Mutter manchmal liebevoll Feinkostsalate als kleine Pausenmahlzeit einpackte, mein Speichel und die Nudelsalatreste festtrockneten, die dann einen unangenehmen Duft von Mundraum und Fleischsalat freisetzten, den niemand so recht zu mögen schien. Und den Schulranzen. Der war selbstverständlich von
Scout
und mit Sternen in feministischen Farbtönen. Ich hatte ihn vor der Einschulung im Rahmen meiner Rebellion als Gegenentwurf zum Frauenbild meiner Eltern ausgesucht, denn ich fand, er passe ausgesprochen gut zu meinem neuen Bubenkurzhaarschnitt und den Fake-Spitzenkrägen, die mir von Mutter so um den schmalen Hals gebunden werden konnten, dass es aussah, als hätte ich unter meinen verdreckten Rentnerpullovern eine trendige Spitzenbluse an. Eine tolle Sache dieser Kinder-Push-Up der 90er Jahre!
Alles andere war
Kelly Family
Merchandise. T-Shirts und Stifte. Ich hatte einfach alles. Ich besaß alle CDs und konnte ausnahmslos alle Lieder in Englisch mitsingen, das ich eigentlich noch gar nicht hätte beherrschen dürfen. Sogar die ganz hohe Kastratenstelle in
An Angel
, in
Weitere Kostenlose Bücher