Dämenkind 2 - Kind der Götter
bereitstellte. Falls die Erste Schwester nicht bald eintraf, musste der Hunger über die Neugierde siegen.
Loclon hatte sich, anstatt im Umzug mitzureiten, als Freiwilliger zur Straßenaufsicht gemeldet. Dabei war es ihm gelungen, zum Befehlshaber der um den Saal verteilten Wachen ernannt zu werden, sodass er – wenige Stufen unter Schwester Harith und den übrigen Mitgliedern des Quorums – einen vorzüglichen Standort auf der Freitreppe einnahm. Am Himmel rumpelte Donner, und die Wolken schienen so tief zu schweben, als müssten sie das Dach der Halle streifen. Es verdross Loclon ungemein, wie lang es dauerte, dass die Festzugswagen durch die Straßen rollten. Von der Ersten Schwester gab es weit und breit nichts zu sehen.
Eben verschwand das letzte Gefährt um die Ecke der Hochmeister-Kanzlei, da erfolgte der Wolkenbruch. Eilig nahm das Quorum unter dem Vordach des Hallengebäudes Zuflucht, während die Menschenmenge Schutz suchte, wo er sich gerade finden ließ. Manche drehten sich auf dem Absatz um, zogen den Umhang über den Kopf und rannten fort, als ergriffen sie die Flucht vor Ärgerem. Loclon harrte an Ort und Stelle aus, doch obwohl ihn der eiskalte Regen umgehend durchnässte, schenkte er ihm kaum Beachtung. Wo steckt sie nur?
Bislang hatte man bei den Zuschauern eine gewisse Erwartungshaltung bemerken können, doch der starke Regenguss schreckte die Menschen gehörig ab. Sollte die Kutsche der Ersten Schwester nicht in Kürze vorfahren, war voraussichtlich kaum irgendwer noch da, um sie zu begrüßen.
Loclon beobachtete die zunehmende Auflösung der Menschenmenge mit insgeheimer Bestürzung. Er hatte gehofft, er könnte das Halbblut inmitten des allgemei
nen Gewimmels beseitigen, doch nun stand zu befürchten, dass er als Letzter auf der Treppe ausharrte. Finster sah er seine Männer an, deren Mienen bezeugten, dass auch sie nichts lieber getan hätten, als dem Regen zu entfliehen; doch sein Blick warnte sie unmissverständlich vor ernsten Auswirkungen, sollten sie Reih und Glied verlassen.
Unter dem schmalen Vordach berieten sich Schwester Harith und die restlichen Angehörigen des Quorums. Nach einem letzten Blick die Straße hinab – in die Richtung des Haupttors – betraten sie das Gebäude.
Was die Bürger anbelangte, so gab das Quorum mit seinem Abgang das Zeichen für die Beendigung der Feierlichkeit. Nun verstrich nur noch eine kurze Frist, bis sich die Straßen geleert hatten, und Loclon wusste keinen Vorwand mehr, warum seine Männer weiterhin im Regen stehen sollten. Er knirschte einen Fluch, wandte sich um und wollte ihnen das Abtreten befehlen; doch genau da traf endlich die Erste Schwester mitsamt ihrem Gefolge ein.
Sofort nahmen seine Untergebenen Haltung an. Hinter einer Vorhut aus etlichen Reitern ratterte eine geschlossene Kutsche heran, deren Läden man wegen des Regens zugeklappt hatte. Loclon spürte, dass sein Herz schneller pochte, als die Kutsche vor der Halle zum Stehen kam und er auf ihren Anblick lauerte. Seine Faust umschmiegte den Griff des Dolchs, um ihn blitzartig zu ziehen und das Halbblut zu erstechen. Wegen der Folgen sorgte er sich nicht. Lag erst einmal ein toter Harshini zu Füßen der Ersten Schwester, rief man ihn, Loclon, unzweifelhaft zum Helden aus.
»Loclon! Was, bei allen Gründerinnen, soll denn das bedeuten? Schickt Eure Männer fort!«
Der Ärger in Garet Warners Tonfall brachte Loclon zum Zusammenzucken.
»Wir warten auf die Erste Schwester, Obrist. Um zu sehen, ob wir uns auf irgendeine Weise nützlich machen können.«
Der Obrist war, als er vom Ross stieg, so klatschnass wie Loclon, störte sich daran jedoch offenbar ebenso wenig. »Redet keinen Unsinn. Die Erste Schwester hat eigenes Geleit. Lasst die Männer abtreten, Hauptmann.«
»Wie es Euch beliebt, Obrist, aber …«
»Ich habe gesagt: Lasst die Männer abtreten!«
Loclon tat wie geheißen und schaute ratlos zu, während Frohinias Begleitung sich um die Kutsche scharte und man ihr beim Aussteigen half. Jemand hob einen Mantel über ihren Kopf, um sie vorm Regen zu schützen. Gleichzeitig kletterte eine zweite Schwester aus dem Wagen. Obgleich der Regen die Sicht behinderte, hätte Loclon schwören können, dass es Mahina Cortanen war. Er wartete noch eine Weile; aber die einzigen weiteren Fahrgäste waren anscheinend eine dunkelhaarige Frau und Meister Draco.
Regelrecht verzweifelt spähte Loclon umher, doch weder zeigte R'shiel sich irgendwo noch das Halbblut, das er töten
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