Dämmerschlaf - Roman
Arzt zu deiner Mutter auch gesagt, und sie kam nie mehr zurück.»
Nona schoss das Blut ins Gesicht, über die blassen Wangen bis hinauf zur Stirn. Sie war normalerweise nicht so leicht in Wallung zu bringen, und daher errötete sie gleich noch einmal über ihr Erröten. Es passte nicht zu Wyant, so etwas zu sagen – passte nicht zu seiner üblichen Zurückhaltung und Anständigkeit, die im Zusammenspiel mit Paulines forschem Optimismus immer alles Leidvolle oder auch nur Peinliche mit Schweigen und Ignorieren quittiert hatte. Seit Jahren lebte das Familienduo in der Annahme, sie seien die besten Freunde auf Erden, und diese stillschweigende Vereinbarung war ihnen zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
Stanley Heuston schien die im Raum schwebende Befangenheit zu spüren. Er stand auf, als wolle er sich verabschieden. «Ich glaube, wir essen auch irgendwo auswärts…» Das «wir» klang wenig überzeugend, denn alle wussten, dass er und seine Frau selten zusammen ausgingen.
Wyant hob die Hand, um ihn zurückzuhalten. «Geh nicht, Stan. Nona und ich haben keine Geheimnisse, und wenn, dürftest du sie teilen. Warum schaust du so wütend, Nona? Mag sein, dass ich etwas Dummes gesagt hab e … Es ist eben so, ich bin altmodisch, und die Vorstellung, dass Menschen, die sich entschieden haben, zusammenzuleben, ständig voreinander davonlaufe n … Wenn ich an meinen Vater und meine Mutter denke, mehr als sechzig Jahr e … New York im Winter, Hudson im Somme r … Hauptgesprächsthema: sechs Monate lang der Schnee und in den anderen Monaten die Moskitos. Wahrscheinlich ist eure Generation deshalb so zappelig.»
Nona lachte. «Das ist durchaus denkbar, jedenfalls kann man nichts dagegen tun.»
Wyant runzelte die Stirn. «Nichts dagegen tun – in Litas Fall? Das meinst du wohl nicht im Ernst. Mein Soh n … Lieber Gott, wenn jemals ein Mann für eine Frau wie ein Sklave geschuftet, sich ihretwegen zum Narren gemacht ha t …»
Heustons trockene Stimme kürzte die Moralpredigt ab. «Bitte, Sir, Sie werden ihn doch nicht des Vorrechts eines jeden Mannes berauben wollen: des Rechts, sich zum Narren zu machen?»
Wyant sank grummelnd in seine Kissen zurück. «Ich verstehe euch nicht, keinen von euch», sagte er, als würde ihn dieses Eingeständnis insgeheim erleichtern.
«Genau genommen musst du das auch nicht, lieber Punkt A. Wir sind alt genug, um den Laden allein zu schmeißen, und du hast nichts weiter zu tun, als uns von deinem Sessel aus zuzuschauen und uns zu bewundern», sagte Nona und beugte sich liebkosend über ihn.
Wieder draußen auf der Straße, lief sie wortlos neben Heuston her. Dieses allwöchentliche Zusammentreffen bei Wyant entwickelte sich stillschweigend zu einer festen Verabredung, zum Einzigen, was ihrem Leben Bedeutung verlieh. Mit einem Lächeln musste sie an die Behauptung ihrer Mutter denken, dass alles gut werde, wenn man nur standhaft und zuversichtlich bleibe, und fragte sich, inwiefern sich dieses Rezept auf ihre Beziehung zu Stanley Houston anwenden ließ. Von Standhaftigkeit konnte keine Rede sein – sie ließ sich zu diesen immer wiederkehrenden Treffen treiben und weigerte sich, die Konsequenzen zu tragen. Dennoch verriet ihr jede einzelne Faser im Leib, dass diese Augenblicke das Beste im Leben waren, das Einzige, worauf sie nicht verzichten konnte: einfach in seiner Nähe zu sein, seine kühle Stimme zu hören, mit einem beliebigen Wort sein ernüchterndes Lachen zu provozieren oder, noch besser, wie jetzt neben ihm zu gehen, ohne zu reden, und hie und da einen verstohlenen Blick auf sein Profil zu werfen, sein ironisches, unzufriedenes, trotziges Gesicht – und dabei so schwach unter diesem Trotz. Dass sie urteilte und dennoch liebte, bewies, dass sie tödlich getroffen war.
«Nun ja, es wird nicht ewig währen; bei unsereinem währt nichts ewig», sagte sie sich, ohne wirklich überzeugt zu sein. «Schlimmstenfalls währt es so lang wie ich selbst, und das ist ein Zeitpunkt, den ich nach Belieben festlegen kann.»
Doch was für ein Unsinn, so daherzureden, wenn alle anderen sie brauchten: Jim und seine alberne Lita, ihr Vater – ja, sogar ihr stolzer, selbstsicherer Vater, und der arme alte Punkt A und ihre Mutter, die sich so sicher war, dass jetzt, wo sie einen neuen Heiler gefunden hatte, nichts mehr schiefgehen konnte! Ja, sie alle brauchten Hilfe, obwohl sie es nicht wussten, und das Schicksal schien für sie, Nona, genau den Platz vorgesehen zu haben, wo sich
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