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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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verdammt. Immer machst d u …»
    Sie war aufgestanden und schob das vor ihnen stehende Tischchen zur Seite. Plötzlich hielt sie inne und setzte sich wieder. Einen Augenblick lang sagte sie kein Wort, blickte auch Heuston nicht an. Sie hatte den massigen Umriss einer vertrauten Gestalt gesehen, die sich von einem Platz ganz vorn erhob, sich breitbeinig hinstellte und langsam den Blick über die Zuschauer schweifen ließ.
    «Nanu – dein Vater? Ich wusste nicht, dass er diese Art von Shows besucht», sagte Heuston.
    Nona suchte nach einer sorglos klingenden Antwort und fand sie. «Vater? Natürlich! Oh, der ist richtig frivol – mein Einfluss, fürchte ich.» Der Satz klang in ihren eigenen Ohren schrill und scheppernd. «Trotzdem, sehr komisch! Du hast nicht zufällig Mutter und Amalasuntha irgendwo entdeckt? Dann wäre die Familie komplett.»
    Sie konnte den Blick nicht von ihrem Vater abwenden. Wie seltsam er aussah, wie ungewohnt! Angespannt und wachsam, anders konnte man es nicht nennen. Und dennoch müde, unsagbar müde, innerlich zutiefst erschöpft, was ihn veranlasste, sich allzu gerade zu halten und den Kopf mit einem herrischen Jungmännergebaren zurückzuwerfen, als er den Balkon über ihm mit den Augen absuchte. Ein Weilchen stand er da und ließ zu, dass sich das Licht und die Blicke auf ihn konzentrierten, als stelle er sich mit einer Art kühler Geduld zur Schau, dann bewegte er sich auf einen der Ausgänge zu. Doch auf halbem Wege hielt er inne, wandte sich mit seinem typischen eigensinnigen Schulterzucken um und schritt zu der Treppe, die zum Rang führte.
    «Hoppla», rief Heuston, «geht er zu Lita hinauf?»
    Nona lachte leise. «Ich hätte es wissen müssen! Das sieht Vater ähnlic h … Wenn er einmal etwas in die Hand nimmt!»
    «Was in die Hand nimmt?»
    «Nun ja, sich um Lita zu kümmern. Wahrscheinlich hat er in letzter Minute erfahren, dass Jim nicht mitkommen konnte, und beschlossen, ihn zu vertreten. Ist es nicht wunderbar, wie er uns hilft? Ich weiß, er verabscheut diese Art von Etablissements und auch die Leute, mit denen Lita zusammen ist. Aber er hat gesagt, wir dürften unseren Einfluss auf sie nicht verlieren, müssten sie beaufsichtigen…»
    «Aha.»
    Nona war wieder aufgestanden und ging nun Richtung Korridor. Heuston folgte ihr, und sie lächelte ihm über die Schulter zu. Ihr war, als müsse sie jede Lücke in ihrem Gespräch mit Worten füllen. Das Schweigen, das sie wie eine Kristallkugel umschlossen hatte, war in tausend Stücke zerborsten und hatte beide stotternd und ungeschützt zurückgelassen.
    «Eigentlich muss ich jetzt nicht mehr zu Lita hinaufgehen, zwei Anstandswauwaus braucht sie wirklich nicht. Ein Glück, dass Vater mich vertritt und ich mich nicht unter diese Truppe mischen muss, ausgerechnet an diesem Abend», flüsterte sie und schob ihren Arm durch den von Heuston. «Wie schrecklich, wenn er so geendet hätte.» Mittlerweile standen sie draußen auf der Straße.
    Auf dem nassen Pflaster hielt Heuston sie fest. «Und wie soll er enden, Nona?»
    «Damit, dass du mich nach Hause fährst, hoffe ich. Es ist leider zu nass, um zu Fuß zu gehen.»
    Resigniert zuckte er die Achseln, rief ein Taxi, zögerte einen Augenblick und sprang dann hinter ihr hinein. «Ich weiß gar nicht, warum ich mitkomme», brummte er.
    Klugerweise hielt sie sich zurück, zündete sich an seinem Feuerzeug eine Zigarette an und plauderte unbeirrt über die Show, bis das Auto in ihre Straße einbog.
    «So, mein Kind, jetzt heißt es wirklich Abschied nehmen. Nächste Woche werde ich mit dieser anderen Dame über alle Berge sein», sagte Heuston, als sie vor der Manford’schen Tür hielten. Er bezahlte das Taxi und half ihr beim Aussteigen, dann stand sie im Regen vor ihm. «Ich komme erst zurück, wenn Aggie sich von mir scheiden lässt, verstehst du», fuhr er fort.
    «Das wird sie nie tun!»
    «Sie muss.»
    «Das ist entsetzlich, es auf diese Weise zu erzwingen.»
    «Nicht so entsetzlich wie das Leben, das ich führe.»
    Sie gab keine Antwort, und er folgte ihr schweigend die Stufen hinauf, während sie nach ihrem Hausschlüssel tastete. Sie zitterte jetzt vor Müdigkeit und Enttäuschung und auch vor dem fiebrigen Verlangen nach dem letzten Kuss, den sie ihm nicht gewähren würde.
    «Alle möglichen anderen Leute kommen frei, warum nicht ich?», beharrte er.
    «Nicht auf diese Weise, Stan! Das darfst du nicht. Es ist zu schrecklich.»
    «Nicht auf diese Weise? Du weißt, dass es

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