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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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glauben, dass sie gelöst werden», hatte Mrs Swoffer anlässlich ihrer Jagd nach Spendengeldern für den neuen Verein zur Entdeckung von Genies erläutert. Diese Bemerkung hatte Pauline derart angespornt, dass sie sofort einen großen Scheck ausstellte und den Vorsitz des Komitees übernahm, und noch beflügelt vom Applaus des Vereins segelte sie nun zur Teezeit in Litas Boudoir.
    «Es ist wohl unkomplizierter, sie einfach um eine Tasse Tee zu bitten – als käme ich eben vorbei, um das Kind zu sehen», hatte Pauline überlegt, und da Lita noch nicht zu Hause war, blieb Zeit genug, um den Vorwand in die Tat umzusetzen. Oben im blau-silbernen Kinderzimmer entdeckte ihr scharfes Auge hinter der geschmackvollen Fassade viele kleine Nachlässigkeiten: Schmutzige Handtücher lagen herum, in einem halb geleerten Glas Milch schwamm eine ertrunkene Fliege, in den ach so ästhetischen Blumentöpfen welkten und faulten die Blumen vor sich hin, und keine einzige Lüftungsrosette in den oberen Fensterflügeln war geöffnet. Sie nahm insgeheim Notiz von diesen Dingen, beschloss aber, sie gegenüber Lita nicht anzusprechen. In Cedarledge, wo sie ein Auge auf die Kinderschwester haben würde, konnte sie das Wissen um Hygiene in der Kinderstube taktvoller vermitteln.
    Das schwarze Boudoir war noch immer leer, als Pauline zurückkehrte, aber sie wappnete sich mit Geduld, nahm Platz und wartete. Die Sessel waren viel zu niedrig, um bequem zu sein, und die recht düsteren, verschleierten Lampen fand sie abscheulich. Wie konnte ein Mensch seine Zeit in einem pechschwarzen Raum verbringen, mit Sitzmöbeln, in die man wie in einen Liegestuhl hineinkippte? Sie fand das Zimmer so hässlich und trist, dass sie Lita kaum einen Vorwurf machen konnte, wenn sie es neu einrichten wollte. «Ich werde ihr sofort einen Scheck dafür geben», überlegte sie großzügig. «Alle jungen Leute begehen anfangs solche Fehler.» Kurz erschaudernd dachte sie an die mit Gobelinimitat bezogenen Sessel, die sie anlässlich der Heirat mit Wyant unbedingt für ihren Salon hatte kaufen wollen. Vielleicht war es ein geschickter Schachzug, Lita mit dem entsprechenden Scheck zu begrüße n …
    Doch als Lita endlich kam, legte ihr ganzes Auftreten den Schluss nahe, dass diese Idee keine besonders glückliche war. Lita hatte eine Art, dreinzublicken, als sei es ihr gleichgültig, was andere ihr zuliebe taten. In Anbetracht der Tatsache, dass sie so viel Geld ausgab, hätte sie sich ihren Wohltätern gegenüber ruhig mehr anstrengen können. «Hallo», sagte sie, «ich wusste nicht, dass du hier bist. Komme ich zu spät?»
    Pauline begrüßte sie mit einem flüchtigen Kuss. «Wie willst du das jemals herausfinden? Ich glaube, im ganzen Haus gibt es keine Uhr.»
    «Doch, im Kinderzimmer», sagte Lita.
    «Na, die ist stehen geblieben, meine Liebe», erwiderte ihre Schwiegermutter lächelnd.
    «Hast du den Jungen schon gesehen? Oh, dann hast du mich ja nicht vermisst», gab Lita lächelnd zurück, während sie ihren Pelzmantel ablegte und den Hut beiseitewarf. Sie fuhr sich mit den Händen durch das goldfischfarbene Haar und ließ sich auf einen Kissenberg fallen. «Vermutlich kommt jetzt früher oder später der Tee. Es sei denn – ein Cocktail? Nein? Würdest du auf dem Boden nicht bequemer sitzen?», schlug sie ihrer Schwiegermutter vor.
    Jedes Fischbein in Paulines perfekt sitzendem Hüfthalter zog sich entsetzt zusammen. «Danke, ich sitze hier sehr gut.» Sie täuschte, soweit dies der heimtückische Sessel zuließ, eine graziöse Haltung vor und fuhr fort: «Es freut mich, dass wir Gelegenheit zu einem kleinen Plausch haben. In der Hektik des Alltags neigen wir alle dazu, uns ein wenig aus den Augen zu verlieren, nicht wahr? Aber durch Nona höre ich regelmäßig von dir, sodass ich das Gefühl habe, wir sind uns ganz nah, auch wenn wir uns nicht sehen. Nona ist dir treu ergeben – wie wir alle.»
    «Das ist furchtbar lieb von euch», sagte Lita mit einer Miene strahlender Gleichgültigkeit.
    «Hoffentlich erwiderst du diese Gefühl auch, meine Liebe», antwortete Pauline mit einem Funkeln in den Augen und streckte eine mütterliche Hand nach der jungen Schulter an ihrem Knie aus.
    Lita warf mit einem leisen Lachen den Kopf nach hinten. Mrs Manford hatte sie nie hübsch gefunden, aber heute entlockten die schiere Frische ihrer halb geöffneten Lippen, die rosige Höhle dahinter und die makellosen Rundungen der Wangen und des langen, weißen Halses der älteren

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