Dämmerschlaf - Roman
Hass!»
«Du weißt sehr gut, dass sie alles, was ihr keinen Spaß mehr macht, mit der Zeit hasst.»
«Aber es gibt da das Kind. Das Kind macht ihr immer noch Spaß.»
Er blickte sie erstaunt an. «Ja, das sagt Vater auch. Er bezeichnet das Kind, den armen kleinen Kerl, als meine Geisel. Was für ein Unsinn! Als ob ich ihr das Kind wegnähme – und gerade deshalb, weil sie es lieb hat. Wenn ich sie nicht halten kann, habe ich doch kein Recht, ihr Kind zu behalten.»
Das war die neue Vorstellung von Ehe, die Vorstellung von Nonas Zeitgenossen; bis vor wenigen Stunden war es noch ihre eigene gewesen. Jetzt, wo sie erlebte, was sie in der Praxis bedeutete, fragte sie sich, ob es wirklich das war, was sie sich vorgestellt hatte. Es war eine Sache, über die Trennbarkeit menschlicher Wesen zu theoretisieren, und eine andere zuzuschauen, wie sie mit blutenden Wurzeln auseinandergerissen wurden. Dieser Botaniker 46 , der vor Kurzem entdeckt hatte, dass Pflanzen Schmerz empfinden und jede Verpflanzung eine größere Operation darstellt, würde der nicht, wenn er sich mit Männern und Frauen von heute beschäftigte, zu dem Schluss kommen, dass dies auch auf einige von ihnen zutraf – immer noch?
«Ach, Jim, ich wollte, du würdest es dir nicht so zu Herzen nehmen!» Diese Worte waren ihr unabsichtlich entschlüpft; es war das Letzte, was sie hatte sagen wollen.
Ihr Bruder wandte sich zu ihr um, und auf seinen Lippen erschien das Gespenst seines alten Lächelns. «Mein liebes kleines Fräulein!», spöttelte er – dann versank sein Gesicht in den Händen, er saß zusammengekauert im Sessel, und die zuckenden Schulterblätter wehrten jede Berührung ab.
Es dauerte nur eine Minute, aber es war die wahre, die einzige Antwort. Er nahm es sich eben zu Herzen, daran ließ sich nichts ändern. Sie schaute benommen zu, wurde zum ersten Mal Zeugin dieser uralten Qual, der eigentlichen Wurzel aller Unrast und Schwermut des Menschen.
Jim stand auf, schüttelte das zerwühlte Haar und griff nach einer Zigarette. «Schluss damit! Und jetzt, mein Kind, was soll ich machen? Am liebsten wäre es mir, offen gestanden, so: Wenn sie ihre Freiheit haben will, gebe ich sie ihr, aber ich möchte mich trotzdem weiterhin um sie kümmern. Allerdings weiß ich nicht, wie sich das bewerkstelligen ließe. Vater behauptet, es sei Wahnsinn. Er sagt, ich sei krankhaft feige und würde daherreden wie in einem russischen Roman. Er möchte selbst mit ihr sprechen.»
«O nein! Er und sie sprechen nicht die gleiche Sprach e …»
Jim schwieg eine Weile, zog geistesabwesend an seiner Zigarette und durchmaß das Zimmer mit unsicheren Schritten. «Das Gefühl habe ich allerdings auch. Aber es gibt ja noch deinen Vater; er war furchtbar nett zu uns, und seine Vorstellungen sind weniger antiquier t …»
Nona hatte sich abgewandt und mit leerem Blick aus dem Fenster gesehen. Hastig drehte sie sich um. «Nein!»
Verblüfft antwortete er: «Du glaubst, er würde es auch nicht verstehen?»
«Das meine ich nich t … Schließlich ist es nicht seine Sach e … Hast du schon mit Mutter gesprochen?»
«Mutter? Ach, die glaubt immer, alles sei in Ordnung. Sie würde mir einen Scheck geben und sagen, ich solle Lita ein neues Auto kaufen oder sie das Wohnzimmer umgestalten lassen.»
Nona dachte über diese Antwort nach, die nur ein Echo ihrer eigenen Gedanken war. «Trotzdem, Jim, unsere Mutter ist unsere Mutter. Sie war immer furchtbar lieb zu uns beiden, und du kannst dieser Entwicklung nicht ihren Lauf lassen, ohne dass sie davon erfährt, ohne dass du sie um Rat fragst. Sie hat ein Recht auf dein Vertrauen; sie hat ein Recht zu hören, was Lita zu sagen hat.»
Er schwieg, als interessiere ihn das nicht. Der funkelnde Optimismus seiner Mutter war ein zu harter Panzer, an dem Kummer und Versagen nur abprallten. «Was hat das für einen Sinn», knurrte er.
«Dann will ich sie fragen. Lass mich zumindest sehen, wie sie es aufnimmt.»
Er drückte die Zigarette aus und schaute auf die Uhr. «Ich muss laufen; es ist schon fast neun.» Er legte seiner Schwester eine Hand auf die Schulter. «Tu, was du für richtig hältst, mein Mädchen. Aber glaube nicht, dass es irgendwie von Nutzen ist.»
Sie schlang die Arme um ihn, und er ließ sich küssen. «Gib mir Zeit», sagte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst antworten sollte.
Als er fort war, saß sie regungslos da, erdrückt von halb verstandenem Leid. Das Leben meister n … Wie richtig war doch trotz
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