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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Weilchen weggeh t … Du weißt, er hat demnächst längere Zeit Urlaub, und mein Mann hat es so eingerichtet, dass Jim mit Mr Wyant auf die Insel fahren kann. Ich bitte dich nur um eines: dass du nichts entscheidest, bevor er zurückkommt. Warte ab, wie du in Bezug auf ihn empfindest, wenn er erst einmal zwei, drei Wochen weg gewesen ist. Vielleicht wart ihr zu viel zusammen, vielleicht geht New York euch beiden auf die Nerven. Lass ihn auf jeden Fall in Urlaub fahren ohne das qualvolle Gefühl, es sei ein Abschie d … Mein Mann bittet dich darum. Du weißt, er liebt Jim wie seinen eigenen Soh n …»
    Lita stützte sich noch immer auf ihren Ellbogen. «Ja – ist er das denn nicht?», fragte sie mit ihrer kühlen, silbernen Stimme und unschuldig aufgerissenen Augen.
    Im ersten Augenblick war Pauline die Bedeutung dieser Antwort nicht klar. Als sie ihr schließlich bewusst wurde, fühlte sie sich so gedemütigt, als hätte man sie beim Verschweigen einer geheimen Schuld ertappt. Sie öffnete den Mund, aber es kam kein Laut heraus. Sie saß sprachlos da, hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, ihrer Schwiegertochter eine Ohrfeige zu geben, und dem Wunsch, weinend aus dem Haus zu laufen. «Lita», keuchte sie, «eine solche Beleidigun g …»
    Lita setzte sich auf, ihr Blick verriet leicht amüsierte Gewissensbisse. «Aber nein! Eine Beleidigung? Warum? Ich habe es mir immer wunderbar vorgestellt, ein Kind der Liebe zu haben. Ich dachte, deshalb vergöttert ihr beide Jim so sehr. Und jetzt ist er nicht einmal das!» Sie zuckte mit ihren schlanken Schultern und streckte reumütig die Hände aus. «Es tut mir wirklich leid, wenn ich etwas Falsches gesagt habe – ganz ehrlich! Aber das zeigt nur, dass wir uns niemals verstehen werden. Ich empfände es als wirkliche Bosheit, mit einem Mann weiterzuleben, den ich nicht liebe. Und jetzt habe ich dich beleidigt, weil ich annahm, du hättest einmal selbst so empfunde n …»
    Pauline erhob sich langsam; sie war steif und hatte das Gefühl, geschrumpft zu sein. «Du hast mich nicht beleidigt – das lasse ich gar nicht zu. Ich glaube vielmehr, dass wir uns, wie du sagst, nicht verstehen. Aber bestimmt ist es noch nicht zu spät für einen neuen Versuch. Ich möchte nicht mit dir diskutieren, ich möchte nicht nörgeln und streiten, ich möchte nur, dass du noch wartest, dass du mit dem Kind nach Cedarledge kommst und ein paar ruhige Wochen bei uns verbringst. Nona wird da sein und mein Man n … es wird keine Vorwürfe geben, keine Frage n … Wir werden unser Bestes tun, um dich glücklich zu machen.»
    Mit ihrem lustigen schiefen Lächeln drehte Lita sich zu ihrer Schwiegermutter um. «Wie, du weinst ja! Das passiert nicht oft, oder?» Sie beugte sich vor und drückte einen flüchtigen Kuss auf Paulines zurückweichende Wange. «In Ordnung – ich komme nach Cedarledge. Ich bin tatsächlich todmüde und habe alles satt, und es tut mir bestimmt sehr gut, eine Weile auszuruhe n …»
    Pauline gab erst keine Antwort, sie legte nur ihre Lippen auf die Wange des Mädchens, ein wenig zaghaft, als bestünde sie aus hauchdünnem, zerbrechlichem Material. «Wir freuen uns alle sehr», sagte sie dann.
    Bis vor die Haustür, bis ins Auto verfolgte sie der Nachhall der ungeheuerlichen Frage: «Ja – ist er das denn nicht?» Sie hatte sehr heftig reagiert, und nun fragte sie sich, wie sinnvoll es war, eine Verbindung kitten zu wollen, die auf einer solchen Auffassung von der Ehe gründete. Hätte Jim nicht, wie seine Frau so unbekümmert vorschlug, mehr Aussichten, glücklich zu werden, wenn er noch einmal wählen könnte? Es gab doch gewiss noch ein paar anständige, rechtschaffene, in althergebrachter Weise erzogene Mädche n … wie zum Beispiel Aggie Heuston! Aber auch vor dieser Vorstellung schreckte Pauline zurüc k … Vielleicht waren ihre Grundsätze aus Sicht der Kinder wirklich überholt. Nur, was sollte an ihre Stelle treten? Die menschliche Natur änderte sich nicht so rasch wie die gesellschaftlichen Gepflogenheiten, und wenn Jims Frau ihn verließ, war es nicht zu verhindern, dass er nach alter Manier litt.
    Es war alles sehr vertrackt und beunruhigend, und anders als sonst war Pauline diesmal nicht der festen Überzeugung, das Problem durch Ignorieren lösen zu können. Auf dem Weg nach Hause hellten sich ihre Gedanken dennoch auf, als sie sich vor Augen führte, dass sie ihr Hauptanliegen durchgesetzt hatte – zumindest vorläufig. Manford hatte ihr

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