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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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aller Ahnungslosigkeit ihr Gefühl gewesen, dass das eine qualvoll chaotische Aufgabe war! Wo endete zum Beispiel ihr eigenes Ich, und wo begann das des Nächsten? Und wie hielt man die verhakten Ranken bei der kitzligen Arbeit des Entwirrens auseinander? Ihr frühreifes Halbwissen über das menschliche Dilemma verband sich mit der jugendlichen Überzeugung, dass die Dauer eines Schmerzes in direktem Verhältnis zu seiner Intensität stand. Und in diesem Augenblick wäre sie auf jeden wütend gewesen, der versucht hätte, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Das einzig Ehrenwerte am Leid war, dass es nicht der Gleichgültigkeit erlag.
    Sie erhob sich, und ihr Blick fiel auf das Telegramm, das sie beiseitegeschoben hatte, als ihr Bruder eingetreten war. Sie hatte noch den Hut auf und stand zur Tür gewandt da. Doch diese Tür schien in eine graue, menschenleere Welt zu führen, die plötzlich allen Zauber verloren hatte. Sie ging ins Zimmer zurück und zerriss das Telegramm.
    18
    «Lita? Aber natürlich werde ich mit Lita rede n …»
    Mrs Manford, einen Ellbogen auf den mit Papieren übersäten Schreibtisch gestützt, lächelte ihrer Tochter aufmunternd zu. Auf der Tischplatte lag die endgültige Version der Geburtenregelungsansprache, zurechtgerückt und in die richtigen Bahnen gelenkt von der geschickten Maisie. Das Ergebnis war so erfreulich, dass Pauline es Nona gern vorgelesen hätte, wenn diese nicht wieder einmal nach geballter Sorge ausgesehen hätte. Ein Jammer, dachte Pauline, dass Nona sich in ihrem Alter so oft von Angst und Mutlosigkeit überwältigen ließ.
    Pauline selbst, gestärkt durch ihre morgendlichen Übungen und eine Doppelsitzung (5 0 $ ) bei Alvah Loft, war schon wieder über alle Schwierigkeiten erhaben. Für ein Wort unter vier Augen mit ihrem Mann war seit dem seltsamen Gespräch gestern Abend keine Zeit gewesen, aber die von diesem Gespräch hervorgerufenen Zweifel und Unsicherheiten hatten sich zerstreut. Natürlich war Dexter launisch und reizbar gewesen; ihre Familie überhäufte ihn ja auch mit zahllosen Sorgen. Er hatte Jim immer ebenso sehr geliebt wie Nona, und nun war Jims Glück in Gefahr, dazu kamen die Unannehmlichkeiten mit Lita, Amalasunthas schamlose Forderungen und die drohende Ankunft dieses lästigen Michelangelo – solch ein Berg familiärer Schwierigkeiten reichte aus, um einen schon von beruflichen Problemen überlasteten Mann zu zermürben.
    «Aber natürlich werde ich mit Lita reden, Liebes, das habe ich ohnehin vorgehabt. Diese dumme Gans! Ich habe nur gewartet, weil dein Vate r …»
    Nonas dichte Brauen schoben sich zusammen wie die von Manford. «Vater?»
    «Oh, er ist uns eine große Hilfe! Und er hat mich gebeten zu warten, nichts zu überstürze n …»
    Nona schien darüber nachzudenken. «Trotzdem – ich finde, du solltest dir anhören, was Lita zu sagen hat. Sie versucht Jim zu einer Scheidung zu überreden, und er meint, er muss einwilligen, wenn er sie schon nicht glücklich machen kann.»
    «Aber er muss sie glücklich machen! Ich werde auch mit Jim reden», rief Pauline in fröhlicher Zielstrebigkeit.
    «Ich würde es zuerst mit Lita probieren, Mutter. Bitte sie, ihre Entscheidung zu verschieben. Wenn wir sie dazu bringen, für ein paar ruhige Wochen nach Cedarledge hinauszukomme n …»
    «Ja, genau das sagt dein Vater auch.»
    «Aber ich finde nicht, dass Vater auf seinen Angelurlaub verzichten sollte, nur um bei uns zu sein. Ist dir nicht aufgefallen, wie müde er aussieht? Er muss für ein paar Wochen weg von uns. Wir beide können uns doch um Lita kümmern.»
    Paulines Begeisterung erlosch. Wirklich, es stand Nona nicht zu, ihrer Mutter Ratschläge für den Umgang mit ihrem Vater zu erteilen. Diese modernen Mädchen – schade, dass Nona nicht heiratete und somit auch nicht gezwungen war, selbst einen Ehemann zu dirigieren!
    «Dein Vater liebt Cedarledge. Es war sein eigener Einfall, dorthin zu fahren. Er hält ein Ostern auf dem Land mit uns allen für erholsamer als Kalifornien. Ich habe ihm seinen Angelurlaub keineswegs auszureden versucht.»
    «Oh, das habe ich auch nicht angenommen.» Nona schien das Interesse an ihrem Gespräch zu verlieren, und die Mutter nutzte diesen Umstand, um mit einem kleinen Seitenblick auf die Uhr zu sagen: «Gibt es sonst noch etwas, Liebes? Ich muss nämlich meine Geburtenregelungsansprache noch einmal durchgehen, und um elf Uhr kommt eine Abordnung vo n …»
    Nonas Augen waren ihrem Blick zu den verstreuten

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