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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Sache ein ganz anderes Gesicht.
    «Oh, aber das bedeutet Tanzen bis in die Puppen! Dabei habe ich Jim versprochen, mich darum zu kümmern, dass Lita sich Ruhe gönnt und früh zu Bett geht. Wozu haben wir sie denn dann überredet, hierherzukommen? Dein Vater hätte sich weigern müssen.»
    «Dann hätte es beim Lunch in Greystock genügend Leute gegeben, die sie mitgenommen hätten. Du weißt schon – dieser Cocktailverein. Deshalb hat Vater sich geopfert.»
    Pauline überlegte. «Tja. Immer muss dein Vater sich opfern. Offenbar ist es zwecklos, Lita überreden zu wollen, dass sie sich mäßigt.»
    «Nicht, wenn man ihren Launen ein wenig nachgibt. Vater hat das erkannt. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie sich hier langweilt – dann würde sie nicht bleiben.»
    Pauline spürte plötzlich eine Müdigkeit in allen Knochen. Es war, als sei das mühsam errichtete Gebäude des einfachen Lebens in Cedarledge durch einen Tritt von Litas kleinem Fuß zu Staub zerfallen. Das Spritzenhaus, der Geflügelhof, die neue Alarmanlage und die Schwimmbadheizung – wann würde Dexter jemals Zeit haben, sie zu besichtigen und zu bewundern, wenn er seine kostbare Ferienzeit damit verschwendete, hinter Lita durch die Gegend zu jagen?
    «Dann werden wir beide wohl allein essen», sagte Pauline und schenkte ihrer Tochter ein gequältes kleines Lächeln.
    22
    Was für eine Jahreszeit – durch jede frostige Fuge brach plötzlich das Leben aus der befreiten Erde! Manford fragte sich, ob er schon jemals Zeit gefunden hatte, die ungestüme Schönheit des amerikanischen Frühlings zu genießen.
    Trotz der Heimfahrt weit nach Mitternacht war er in aller Frühe zu einer langen Wanderung aufgebrochen. Schlafen – wie sollte man mit diesem Aprilmondlicht im Blut schlafen? Diesem allgegenwärtigen Mond, der in den perlmutternen Träubchen der Felsenbirnen gefangen und als elfenbeinfarbenes Blütengestöber auf den wilden Pflaumenbäumen verstreut war, diesem Mond, der bleich die Grasspitzen am Wegesrand nachzeichnete und in den Waldlichtungen Pfützen aus gefrorenem Silber ausbreitete. Ein eisiger, brennender Zauber, in den man eintauchte und dem man kalt und glühend wieder entstieg. Und alles ringsum erschien ebenso unwirklich und unglaublich wie man selbs t …
    Nach dem lauten «Club»-Restaurant, dem Lärm, dem Jazz, den sich drehenden Paaren, den japanischen Laternen, dem grellen Gelächter und dem turbulenten Abschiednehmen nun dieses weiße Schweigen, die lange Straße, die sich vor ihm abspulte und hinter ihm wieder aufrollte, die blinden Gesichter der Bauernhäuser mit den geschlossenen Fensterläden, die schwarzen Wälder, die im Dunst liegenden Seen – ein Schnitt durch eine Welt im Schlaf, stumm und mondbetäub t …
    Der Gegensatz war schön und unerträglic h …
    Schlafen? Er war gar nicht erst ins Bett gegangen. Hatte sich nur in die Wanne gelegt, sich dann auf seiner Liege ausgestreckt und zugesehen, wie die Dämmerung hereinbrach. Auch das ein geheimnisvoller Anblick; die kalten Lichtfinger formten eine neue Welt, während die Menschen achtlos schliefen und sich einbildeten, sie würden in einem vertrauten Gestern erwachen. Narren!
    Er frühstückte heißhungrig, bevor seine Frau herunterkam, und brach mit ein paar Hunden zu einer langen Wanderung auf, ohne noch recht zu wissen, wohin.
    Selbst im Tageslicht erschien ihm die Welt unvorstellbar seltsam, als hätte er sie nie zuvor richtig betrachtet. Langsam ging er drei, vier Meilen dahin und hielt sich ungefähr in Richtung Greystock. Auf seinen langen Wanderungen als Junge, in der Zeit auf der Farm, hatte er gelernt, gemächlich und gleichmäßig zu gehen, und nun erfrischte ihn die ungewohnte Bewegung eher, als dass sie ihn ermüdete – zumindest ermüdete sie nur seine Muskeln, belebte aber sein Gehirn. Erregt? Nein – nur wohltuend angereg t …
    Unter einem Walnussbaum an einem sonnigen Hang streckte er sich aus, zündete seine Pfeife an und starrte über Felder und Wälder in die Ferne. Das ganze Land lag in diesem Dunst beginnenden Lebens. Die Hunde jagten und buddelten, dann kamen sie zurück, um zu seinen Füßen zu schlummern und süß zu träumen. Die Sonne auf seinem Gesicht fühlte sich warm und menschlich an, und allmählich glitt das Leben in die alten Bahnen zurück – eine behagliche Routine, unterbrochen von erfreulichen Ereignissen. Konnte ein Mann über fünfzig mehr erwarten?
    Doch nach einer Weile ließ sein Schwung nach. Er begann zu frösteln und

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