Daemmerung der Leidenschaft
ihre und machte ihrer Nervosität damit ein Ende.
»Hast du überhaupt etwas gegessen, bevor du rausgegangen bist?« fragte er, und in seiner Stimme lag ein strenger Ton.
Sie verzog das Gesicht, da sie wußte, was nun kommen würde. »Sicher – eine Semmel und etwas Thunfisch!«
»Eine ganze Semmel? Wieviel Thunfisch?«
»Nun, vielleicht nicht eine ganze.«
»Mehr, als du von der hier verspeist hast?«
Angestrengt beäugte sie das demolierte Brötchen auf ihrem Teller, so als ob sie jeden Krümel gewissenhaft in Betracht zöge. Sie war erleichtert, sagen zu können, daß es mehr war.
Nicht viel mehr, aber immerhin. Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, daß er sich nicht von ihr täuschen ließ, doch für den Moment gab er sich zufrieden. »Na schön. Wieviel Thunfisch? Wieviele Bissen?«
»Ich hab sie doch nicht gezählt!«
»Mehr als zwei?«
Langsam arbeitete sie sich durch ihr Gedächtnis. Es waren einige Bissen, um Tante Gloria zu zeigen, daß ihre scharfe Bemerkung sie nicht getroffen hatte. Sie konnte versuchen, der Wahrheit auszuweichen, doch Webb direkt anzulügen, brachte sie nicht fertig; da er das wußte, würde er fortfahren, sie mit seinen Fragen festzunageln. Leise seufzend gab sie zu: »Es werden wohl so zwei gewesen sein.«
»Hast du danach noch irgendwas gegessen? Bis jetzt, meine ich?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ro.« Er drehte seinen Stuhl so, daß er ihr zugewandt war, legte den Arm um ihre schmalen Schultern und drückte sie an sich. Seine Hitze und seine Stärke umhüllten sie, wie es immer der Fall war. Roanna barg ihren ungekämmten Haarschopf an seiner breiten Brust. Ein seliges Glücksgefühl stieg in ihr hoch. Als sie noch jünger gewesen war, hatten Webbs Umarmungen eine Zuflucht für ein zutiefst verstörtes, verängstigtes und ungeliebtes kleines Mädchen dargestellt. Jetzt war sie älter, und die Freude, die sie dabei empfand, hatte sich gewandelt. Seine Haut strömte einen verwirrenden, leicht moschusähnlichen Duft aus, bei dem ihr Herz immer zu holpern und zu rasen begann; gleichzeitig verspürte sie das überwältigende Bedürfnis, sich an ihn zu schmiegen und an ihm festzuhalten.
»Du mußt einfach essen, Baby«, drängte er sanft, aber mit einem unnachgiebigen Unterton. »Ich weiß, daß du dich aufregst und dann den Appetit verlierst – aber du hast eindeutig noch mehr Gewicht verloren. Du wirst noch deiner Gesundheit schaden, wenn du dich nicht vernünftiger ernährst.«
»Ich weiß, was du denkst«, warf sie ihm vor und hob den Kopf, um ihn aufgebracht zu mustern. »Aber ich bring mich nicht zum Übergeben oder sowas.«
»Mein Gott, wie könntest du auch? Du hast ja nie genug im Magen, um spucken zu können. Wenn du nicht mehr ißt, dann wirst du bald keine Kraft mehr haben, auf ein Pferd zu steigen. Ist es das, was du willst?«
»Nein!«
»Dann iß!«
Sie betrachtete das Hühnerbein mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck. »Ich versuche es ja, aber die meisten Sachen schmecken mir einfach nicht, und alle mäkeln immer an mir herum, wie ich esse – und dann krieg ich diesen Knoten im Magen und kann einfach nichts mehr schlucken.«
»Du hast heute morgen Toast mit mir gegessen, und den schienst du ganz gut runterzukriegen.«
»Weil du mich ja auch nicht anschreist oder dich über mich lustig machst«, murmelte sie.
Er streichelte ihr Haar, strich die kastanienbraunen Strähnen aus ihrem Gesicht. Arme kleine Ro. Sie hungerte nach Tante Lucindas Anerkennung, war aber zu rebellisch, um ihr Verhalten entsprechend zu ändern. Vielleicht tat man ihr wirklich unrecht: sie war doch keine vorsätzliche Missetäterin oder etwas in der Art. Roanna kam ihm einfach wie ein wildes Blümchen vor, das inmitten eines wohlgepflegten und geordneten Rosengartens wuchs, und keiner konnte etwas mit ihr anfangen. Sie sollte wirklich nicht betteln müssen um die Liebe und die Anerkennung ihrer Familie; Tante Lucinda müßte sie so lieben, wie sie war. Aber für Tante Lucinda war ihre andere Enkelin, Jessie, der Inbegriff von Perfektion, und sie hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß Roanna ihr in keiner Hinsicht das Wasser reichen konnte. Webb preßte den Mund zusammen. Seiner Ansicht nach war Jessie alles andere als perfekt, und höchstwahrscheinlich würde sie nie aus ihrem Egoismus und ihrer Selbstsucht herauswachsen.
Jessies Haltung hatte ebenfalls viel mit Roannas Unfähigkeit, richtig zu essen, zu tun. Jahrelang fand nun schon dieses Gekabbel statt, während er sich
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