Daemmerung der Leidenschaft
ihr Schädel buchstäblich aufgeschlagen worden war. Sie lag seltsam verdreht, mit verbogenem Hals da, und ihr Kopf ruhte auf dem erhöhten Absatz des Kamins.
Roanna hatte das Licht angeschaltet, als sie den Raum betrat, und geblinzelt, um ihre Augen an das grelle Licht zu gewöhnen. Dann war sie um das Sofa herumgegangen, auf dem Weg ins Schlafzimmer, wo sie Jessie aufwecken wollte, um mit ihr zu reden. Sie war buchstäblich über Jessies ausgestreckte Beine gestolpert, hatte sie einen endlosen Augenblick lang fassungslos angestarrt, bis ihr schließlich klar wurde, was sie da sah, und zu schreien begann.
Erst viel später merkte sie, daß sie auf dem blutdurchtränkten Teppich stand und ihre nackten Fußsohlen voller Blut waren. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie sauber wurden, ob sie sie selbst gewaschen hatte oder jemand anderer.
Im Fenster spiegelte sich die Szenerie hinter ihr, das Kommen und Gehen all der Menschen. Der Rest der Familie war im Lauf der Nacht und des frühen Morgens einer nach dem anderen, allein oder in Grüppchen, aufgetaucht, und sie hatten dem allgemeinen Durcheinander ihre Fragen und Tränen hinzugefügt.
Da war Sandra, Webbs Tante väterlicherseits, was sie zu Großmutters Nichte machte. Tante Sandra war eine große, dunkelhaarige Frau mit dem gutgeschnittenen Gesicht der Tallants. Sie hatte nie geheiratet, sondern Physik studiert, und arbeitete nun für die NASA in Huntsville.
Tante Glorias Tochter und ihr Mann, Lanette und Greg Spence, trafen mit ihren zwei heranwachsenden Kindern, Brock und Corliss, ein. Corliss war in Roannas Alter, sie kamen aber nie besonders miteinander aus. Kaum, daß sie angekommen waren, hatte sich Corliss an Roanna herangeschlichen und geflüstert: »Bist du wirklich in ihrem Blut gestanden? Wie hat sie ausgesehen? Ich hab gehört, wie Mama zu Daddy sagte, ihr Kopf wäre aufgeplatzt gewesen wie eine Wassermelone.«
Roanna hatte die aufgeregte, unverschämte Stimme einfach ignoriert und weiterhin aus dem Fenster gestarrt. »Na los, sag es mir!« zischte Corliss. Ein brennender Schmerz war Roanna in den Arm gefahren und trieb ihr die Tränen in die Augen; das Mädchen hatte sie heftig in den Oberarm gekniffen. Doch sie reagierte nicht und ignorierte ihre Cousine eisern.
Schließlich gab Corliss auf und ging, um jemand anderen wegen der blutigen Einzelheiten zu nerven, auf die sie so versessen war.
Tante Glorias Sohn Baron lebte in Charlotte; er und seine Frau und seine drei Kinder wurden im Lauf des Tages ebenfalls erwartet. Selbst ohne sie bedeutete das, daß bereits zehn Familienmitglieder im Wohnzimmer versammelt waren oder sich in der Küche um eine tröstliche Kanne Kaffee gruppierten. Es war ein ständiges Hin und Her zwischen Wohnzimmer und Küche, sie wisperten, tuschelten und tauschten wilde Vermutungen aus.
Noch durfte niemand den ersten Stock betreten, obwohl man Jessie längst weggebracht hatte; aber die Polizei war noch mit der Spurensicherung und dem Fotografieren des Tatorts beschäftigt. Mit all den Polizeibeamten und anderen Rechtspersonen wimmelte es in dem großen Haus nur so von Menschen; Roanna schaffte es trotzdem, sich total auszuklinken. In ihr herrschte eine eigenartige Kälte, die jede Zelle ihres Körpers erfüllte und sie in eine Art Schutzzustand versetzte, der sie ein- und alle anderen ausschloß.
Der Sheriff hatte Webb mitgenommen, und sie wäre beinahe erstickt an ihrer Reue. Das war alles ihre Schuld. Wenn sie ihn doch bloß nicht geküßt hätte! Natürlich hatte sie es nicht absichtlich getan, doch nichts von dem, was sie dauernd anrichtete, geschah bewußt.
Er hatte Jessie nicht getötet. Das stand fest. Sie hätte die anderen am liebsten angeschrien, warum sie so etwas Häßliches überhaupt von ihm glauben konnten. Und jetzt redeten Tante Gloria und Onkel Harlan überhaupt nichts anderes mehr, wie schockierend es doch war, als ob er bereits hinter Gittern säße. Nur wenige Stunden zuvor waren sie ebenso überzeugt gewesen von Roannas Gewissenlosigkeit.
Webb mordete nicht! Er konnte töten; irgendwie wußte Roanna, daß Webb alles tun würde, was notwendig war, um seine Lieben zu beschützen; aber unter solchen Umständen zu töten war nicht dasselbe wie ein Mord. Egal, wie widerlich Jessie sich auch aufführte, egal, was sie gesagt hatte, ja selbst wenn sie ihn mit einem Eisen oder sonstwas angegriffen hätte, hätte er ihr nie wehgetan. Roanna hatte gesehen, wie sanft und zärtlich er einem kleinen Fohlen
Weitere Kostenlose Bücher