Daemmerung der Leidenschaft
ins Leben half, wie er nächtelang bei einem kranken Tier wachte, wie er stundenlang abwechselnd mit Loyal ein unter Koliken leidendes Pferd hin- und herführte. Webb sorgte für die Seinen.
Jessies Tod war nicht direkt ihre Schuld, aber weil Roanna Webb liebte und ihre dummen Sehnsüchte nicht unterdrückte, hatte sie eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die nun dazu führten, daß man Webb des Mordes an Jessie beschuldigte. Sie hatte keine Ahnung, wer die junge Frau getötet hatte, so weit waren ihre Gedanken noch nicht vorgedrungen; jedenfalls er konnte es nicht getan haben, und alles andere war ihre Schuld, was er ihr nie verzeihen würde.
Als Sheriff Watts Webb zum Verhör mitnahm, war Roanna wie gelähmt vor Scham gewesen. Sie hatte nicht mal den Kopf heben und ihn ansehen können, weil sie von ihm nichts als Haß und Verachtung erwartete, falls er zufällig aufgeblickt hätte – und dann wäre sie wirklich zusammengebrochen.
Noch nie hatte sie sich so allein gefühlt, als ob sie in einer unsichtbaren Kugel säße, die alle davon abhielt, ihr nahezukommen. Sie konnte Großmutter hören, wie sie vor sich hin wimmerte, und Tante Glorias gemurmelte Tröstungsversuche; doch das alles berührte sie kaum. Und wo Onkel Harlan geblieben war, scherte sie auch nicht. Immerhin hatten sie sie beschuldigt, Jessie ermordet zu haben, woraufhin sie dann vor ihr zurückgewichen waren, als ob sie die Pest hätte. Selbst als Sheriff Watts sagte, er glaubte nicht an Roanna als Täterin, war keiner von ihnen zu ihr gekommen, um sich bei ihr zu entschuldigen ... nicht mal Großmutter, obwohl Roanna ihre leise Erleichterung »Gott sei Dank« vernommen hatte.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich so sehr bemüht, die Zuneigung dieser Menschen zu gewinnen, brav zu sein, sich gut zu benehmen, doch vergebens. Nie hatte sie es geschafft, den Ansprüchen der Davenports und Tallants gerecht zu werden. Sie war nicht hübsch, ja nicht mal präsentabel, und in ihrer Ungeschicklichkeit sagte sie obendrein die schlimmsten Dinge zum unpassendsten Zeitpunkt.
Tief in ihrem Innern hatte etwas aufgegeben. Diese Menschen hatten sie nie geliebt und würden sie auch nie lieben. Bloß Webb lag etwas an ihr, und jetzt hatte sie auch das verpfuscht. In ihrer grenzenlosen Einsamkeit tat sich eine große, schwarze Leere in ihr auf, ein unerträglicher Schmerz. Der Gedanke, daß es niemandem wirklich etwas ausmachen würde, wenn sie einfach aufstehen, das Haus verlassen und nie wiederkommen würde, besaß etwas Vernichtendes. Die Verzweiflung, die sie zuvor übermannt hatte, als sie erkannte, daß Webb sie nicht liebte und ihr auch nicht vertraute, war einem Gefühl stummer Resignation gewichen.
Nun, dann liebten sie sie eben nicht; das hieß jedoch keineswegs, daß sie nichts zu geben hatte. Sie liebte Webb mit jeder Faser ihres Seins, und das würde sich nie ändern, egal, was er von ihr hielt. Sie empfand auch Liebe für Großmutter, obwohl sie Jessie immer vorgezogen hatte; denn schließlich war es Lucinda gewesen, die gesagt hatte, »Roanna wird natürlich hier leben«, und damit das Entsetzen einer Siebenjährigen, die soeben alles verloren hatte, ein wenig linderte. Obwohl sie häufiger die Mißbilligung als die Billigung ihrer Großmutter fand, empfand sie dennoch großen Respekt und Zuneigung für die unbeugsame alte Frau. Sie hoffte, eines Tages ebenso stark sein zu können wie diese, statt der stotternden, ungeliebten Närrin, die sie jetzt war.
Die beiden Menschen, die Roanna am meisten am Herzen lagen, hatten eine ihnen nahestehende Person verloren. Nun, sie mochte Jessie ja gehaßt haben, aber Großmutter und Webb hatten das nicht. Es war nicht ihre Schuld, daß Jessie tot war; aber wenn man Webb die Untat in die Schuhe schob, dann war das ihre Schuld, wegen dieses Kusses. Wer hatte nun wirklich Jessie getötet? Der einzige, der ihr dabei in den Sinn kam, war der Mann, den sie mit Jess am Tag zuvor gesehen hatte; aber wer mochte das wohl sein, und sie war auch nicht sicher, ihn beschreiben oder gar identifizieren zu können, wenn er ihr begegnete. Sie war so geschockt gewesen, daß sie kaum auf sein Gesicht geachtet hatte. Und wenn sie zuvor schon beschlossen hatte, den Mund über das Gesehene zu halten, dann wogen ihre Gründe dafür nun sogar noch schwerer. Fände Sheriff Watts heraus, daß Jessie eine Affäre gehabt hatte, würde er das bestimmt als Motiv für Webb auffassen, sie umzubringen. Nein, argumentierte Roanna wie
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