Daemmerung ueber der See
»Yovell erzählte mir, daß er mit Nelson zusammengetroffen ist, der ihn herzlich begrüßte.« Er zögerte. »Sind Sie ihm jemals begegnet, Sir?«
Bolitho schüttelte den Kopf und war plötzlich deprimiert. Dieselben Leute, die jetzt den kleinen Admiral in den höchsten Tönen lobten, hatten versucht, ihn zu vernichten, bevor er an Bord der
Victory
fiel. Und was war mit seiner geliebten Emma? Was war aus ihr geworden? Was taten diejenigen, die Nelson Versprechungen gegeben hatten, als er sterbend an Deck lag?
Und Catherine? Was würde aus ihr, wenn das Schlimmste passierte?
»Gehen Sie und sprechen Sie mit dem Ersten. Er braucht Unterstützung.«
Avery stand auf und empfand das Schiff wie ein lebendiges Wesen, was sicher am ständigen Beben lag, das die langen Ozeanwellen verursachten, wenn sie an die Bordwand schlugen.
»Also dann ist morgen der Tag, Sir.«
Bolitho nickte. »Was wollten Sie über Nelson wissen?«
Avery legte eine Hand gegen die Tür
.
»Männer, die ihn nie persönlich gekannt oder gesehen hatten, weinten bittere Tränen, als sie von seinem Tod hörten.« Er öffnete die Tür. »Ich habe nie an eine solche Ausstrahlung geglaubt, bis ich Ihr Flaggleutnant wurde, Sir.« Dann war er verschwunden.
Bolitho lächelte. Avery würde anders denken, sollte der morgige Tag unglücklich für sie verlaufen.
Nachdem Ozzard die Kabine aufgeräumt hatte und nachdenklich in seiner Pantry verschwunden war, nahm Bolitho ein kleines Buch aus seiner Kiste und drehte es in den Händen. Es war keines von Catherines Geschenken, kein Sonett von Shakespeare in makellosem grünen Ledereinband, sondern war viel älter, mitgenommen von der salzigen Luft und dem häufigen Gebrauch. Es war
Paradise Lost,
das einst seinem Vater gehört hatte. Wie Kapitän James Bolitho hatte er darin unter tropischer Sonne, während eines Sturms vor Brest oder Lorient und auf geschützter Reede gelesen.
Mit großer Vorsicht bedeckte er sein linkes Auge und hielt eine Seite dicht unter die Lampe.
Was ist, wenn die Schlacht verloren ist?
Alles ist nicht verloren, der unbezwingbare Wille, der Durst nach Rache, der tödliche Haß und der Mut geben nie auf oder unterwerfen sich.
Bolitho schloß das Buch und ging zum Tisch, auf dem noch immer die Karte lag.
Vielleicht war schon alles entschieden, und er konnte am Spruch des Schicksals nichts mehr ändern.
Das Schiff legte sich wieder über, und das gelbe Licht der Laterne fiel auf den alten Degen, der am Schott hing. Der Stahl schien zum Leben zu erwachen. Laut wiederholte er: »Alles ist nicht verloren!«
Er blickte aus den Heckfenstern, sah aber nur sein Spiegelbild gegen die dunkle See. Wie ein Geist oder die Porträts an den Wänden in Falmouth.
Plötzlich war er ganz ruhig, als wären die Würfel schon gefallen. So war es oft in der Vergangenheit gewesen, wenn zwischen Sieg oder Niederlage der Mut der Einzelnen unter den verschiedenen Flaggen entschieden hatte.
Er setzte sich und zog einen unbeendeten Brief aus dem Schubfach. In Cornwall würde jetzt Sommer sein, die Luft würde vom Blöken der Schafe, dem Muhen der Kühe und dem Summen der Bienen erfüllt sein. Und dem Duft der Rosen. Ihrer Rosen … Er berührte das Medaillon und las die letzten Zeilen des langen Briefes. Vielleicht würde sie ihn nie lesen.
Ich muß Dir bezüglich Stephen Jenour eine schlechte Nachricht überbringen.
Er schrieb sehr konzentriert, so als ob er mit ihr sprechen oder sie ihn an diesem Tisch beobachten würde.
Ich bin sicher, daß es morgen zum Kampf kommen wird.
Er blickte nach oben, als auf dem Deck geschäftige Füße umhereilten. Die Mittelwache begann. Er lächelte ernst, strich das letzte Wort aus und ersetzte es durch
heute.
Er dachte an seine paar Kommandanten, die sich draußen in der Dunkelheit verloren. Sie waren so verschieden, wie Männer nur sein konnten. Der junge Adam, der vielleicht die Frau im Kopf hatte, die nie die seine werden konnte. Peter Dawes, der Admiralssohn, der immer ein wenig zuviel an Prisengeld dachte, aber sofort auf dem Sprung war, wenn es in den Kampf ging: ein scharfer junger Offizier ohne übertriebene Vorstellungskraft und von keinem Zweifel getrübt. Dann Tyacke, völlig allein, aber von Beginn an Teil des ganzen Geschehens. Und natürlich der dienstälteste Kapitän, Aaron Trevenen, feindselig, nachtragend und in Fragen der Disziplin unbeugsam.
Er hörte, daß ein Teil der Männer in ihre Messen entlassen wurden. Für viele würde es wenig Schlaf
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