Dämon, Dämon an der Wand: Roman (German Edition)
Verstand und eigener Seele? Sie hatte nie durchblicken lassen, dass sie solche Magie wirken konnte. Oder war Gertas Leben bloße Imitation, vielleicht ein Fragment von Schnee selbst, herausgebrochen aus dem Ganzen?
Danielle konnte Schimmer von Schnee in Gerta sehen. Die Art, wie sie geistesabwesend flüsternd mit sich selbst sprach, als sie sorgfältig Runen auf Armands Arm malte, die Form ihrer Lippen, wenn sie sich konzentrierte, ihre offensichtliche Erregung beim Zaubern.
Wie viele Jahre hatte Schnee damit verbracht, sich eine Schwester vorzustellen, jedes kleinste Detail mit ihrem Geist zu formen, in dem Versuch, ihre Einsamkeit zu lindern? Gerta war nicht ganz so attraktiv wie Schnee, was Sinn ergab: Schnees Eitelkeit hätte es nicht zugelassen, sich eine schönere Schwester vorzustellen. Gerta war größer und hatte eine markantere Nase. Ihre Zähne waren vollkommen, aber ein bisschen zu groß. Ihre Augen waren blassbraun und erinnerten Danielle nicht an Schnee selbst, sondern an deren Mutter.
Falls sie nicht imstande waren, den Dämon aufzuhalten, der von Schnee Besitz ergriffen hatte, dann war Gerta vielleicht das Einzige, was Danielle von ihrer Freundin blieb.
Gertas Schrei hallte durch die Kapelle. Talia sprang vor, um ihren Arm zu packen, aber Gerta schüttelte sie ab.
»Lass sie arbeiten!«, brüllte Isaac. Danielle hatte ihn noch nie zuvor schreien gehört.
»Was ist los?«, fragte Danielle.
»Gebt mir die Perle!« Blindlings griff Gerta nach dem silbernen Kelch, der eine einzelne, perfekte Perle enthielt. Talia drückte ihn ihr in die Hand. Gerta fing an, in einer anderen Sprache zu singen. Schweiß perlte ihr auf Stirn und Nase. Danielle konnte die Perle hin und her rollen hören, obwohl Gerta den Kelch vollkommen ruhig hielt.
»Der Dämon«, sagte Isaac. »Wenn Gertas Magie Kontakt mit dem Spiegel hat, dann hat Gerta ihn auch mit Schnee.« Er nahm sein Kruzifix in beide Hände und begann zu beten. Grauer Rauch quoll aus den Turibulen; der Duft war so stark, dass Danielle die Augen tränten. Seine Stimme wurde dunkler und erfüllte das Gotteshaus. »Weiche von dannen! Du bist hier nicht willkommen!«
»Sie sieht mich!« Gerta zitterte.
Danielle ging näher heran und legte ihre Hand über die Gertas am Kelch. »Konzentriere dich auf den Spiegel! Du kannst das schaffen!«
Gerta nahm einen kleinen Krug mit Öl und goss einen Kreis um die frischesten Blutergüsse auf Armands Brust. Wo das Öl die Haut berührte, wurde sie rosa. Gerta presste die Finger ins Zentrum des Kreises.
Danielle konnte ein winziges Klümpchen unter Armands Haut erkennen. »Ist er das?«
Gerta nahm die Perle aus dem Kelch und drückte sie mit dem Daumen auf das Klümpchen. »Sie versucht, ihn zu zerbrechen. Einen einzigen Splitter kann ich umhüllen, aber wenn seine Bruchstücke sich weiter …«
Armands Augen klappten auf. Mit einem Sprung war Talia bei ihm und presste ihm den Arm auf den Altar. Danielle machte dasselbe auf der anderen Seite und setzte ihr ganzes Gewicht ein, um ihn daran zu hindern, Gerta zu packen. Er war so stark; seine Finger gruben sich in Danielles Arm und rissen Hautfetzen ab, während er sich abmühte, um loszukommen. Gleichzeitig trat er nach Isaac, der ihm auswich, ohne seinen Gesang zu unterbrechen.
Isaac gestikulierte mit der Hand, und Armands Oberkörper fiel wieder zurück, auch wenn er wach blieb.
»Ich hab’s fast!«, sagte Gerta.
Armands Augen verengten sich, und seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.
»Sei vorsichtig!«, warnte Danielle.
Das Knacken war so leise, dass es Danielle fast entgangen wäre. Gerta schrie gellend auf und riss den Daumen zurück. Die Perle war in zwei Teile zersprungen, und aus der Mitte von Armands Brust quollen Blutstropfen.
Isaac packte Gertas Handgelenk und streckte die andere Hand aus. »Messer!«
Talia klatschte ihm einen Dolch in die Hand. Isaac drückte die Schneide auf Gertas Daumen und zog einen flachen Schnitt. Wieder stieß Gerta einen spitzen Schrei aus, wehrte sich jedoch nicht. Stattdessen packte sie den Dolch und drückte ihn tiefer hinein.
»Der Kelch!«, sagte sie.
Danielle nahm den Kelch vom Altar und reichte ihn ihr. Von Gertas Daumen tropfte Blut, zusammen mit einem Fünkchen Glas, nicht größer als ein Sandkorn. »Ist das …?«
»Sie hat den Splitter entzweigebrochen.« Gerta steckte sich den blutigen Daumen in den Mund. Sie zitterte am ganzen Körper. »Sie hat versucht, das andere Stück in mich zu stoßen.«
Als
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