Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
bewies, dass es nicht der Inkubus war, der sich bloß Gabriels Erscheinungsbild bediente, um sein Spiel mit ihr zu treiben. Aber es war auch nicht der Mann, für den sie diese Reise angetreten hatte, wie Ella sich eingestehen musste. Diese Person war ihr fremd – genau wie sie ihm offenbar fremd war.
»Kennst du den Weg nach draußen?«, fragte er sie mit Gabriels schmerzlich vermisster Stimme. Doch die Art, mit der er es sagte – brüchig und unsicher –, war merkwürdig. Was noch schwerer wog, war das fehlende Erkennen. Gabriel sprach zu ihr wie zu einer
Unbekannten.
Ich habe ihn zu spät gefunden, begriff Ella voller Kummer. Vor ihr stand Gabriel, aber was ihn zu dem Mann machte, den sie lieben gelernt hatte, war verschwunden. Weder vom
Schalk, der sonst in seinen Augen blitzte, noch von seinem oft unvermittelt auftretenden Ernst waren Spuren auszumachen. Es gab keinerlei Regung, die bei Ella Vertrautheit
ausgelöst hätte. Nicht nur die Gestalt im Spiegel war ein Kind, das ihr plötzliches Auftauchen genauso hinnahm wie seine Gefangenschaft, sondern auch der Mann.
Als sie ihm eine Antwort schuldig blieb, deutete er auf sein Spiegelbild und sagte: »Er weiß nicht, wie man von hier fortkommt. Also bleiben wir hier. So war es schon immer.«
»Schon immer?«, fragte Ella vorsichtig nach.
Gabriel nickte, vollkommen versunken in den Anblick des Jungen. »Jede Nacht ist es so.
Ich stehe da und weiß nicht, wohin ich gehen soll. Es geht nicht vor und nicht zurück. Ich bin gefangen.«
»Jede Nacht …«, wiederholte Ella für sich. »Du meinst, dass du jede Nacht davon träumst, gefangen zu sein.«
»Ja«, bestätigte Gabriel, auf dessen Stirn sich vor Anstrengung eine Falte eingrub. »Ein Traum. Ein schrecklicher Traum. Er kehrt immer wieder und führt mir meine
Aussichtslosigkeit vor Augen. Es gibt keinen Weg für mich. Nicht vor und nicht zurück, nicht vor und nicht zurück, nicht vor und nicht …« Wie in einer Endlosschleife wiederholte er diese Losung.
Mit Mühe unterdrückte Ella die aufsteigenden Tränen. Sie stand einem Traum von Gabriel gegenüber. Einem sehr alten Traum, dem Angsttraum eines Kindes, das sich davor fürchtete, voranzugehen, das aber auch nicht mehr zurückkonnte. Was sie sah, war die Angst vor dem Erwachsenwerden und dem damit verbundenen Verlassen jener Welt, in der noch alle Wege offen schienen – da war Ella sich ganz sicher. Nicht alle Träume sind Gärten, aber die Prägung, die sie uns verleihen, begleitet uns ein Leben lang. Es sei denn, wir verpfänden sie, weil wir sie für wertlos halten, für zu düster und unheimlich … oder auch einfach nur für zu bedrückend. Vermutlich genau das, was Gabriel getan hatte: Er hatte diesen verwirrten Jungen, der ihn jede Nacht heimsuchte und ihn daran erinnerte, warum ihm sein Leben so unbefriedigend vorkam, dem Inkubus überlassen. Und hier, in diesem Grenzgebiet,
begegnete er ihm erneut … und scheiterte an ihm. An seinem alten, verkauften Traum.
Vorsichtig, erfüllt von der Sorge, jede zu rasche Bewegungkönnte den kindlichen Gabriel verschrecken, streckte Ella die Hände nach ihm aus. Die Eiseskälte, die von der Wand zwischen ihnen ausging, biss in ihre Handflächen, doch sie ließ sich nichts anmerken. »Du kennst den Weg«, erklärte sie demJungen, dessen Blick nur widerwillig von Gabriel zu ihr wanderte. »Du hast ihn bereits beschritten. Er endet in einem Garten.«
Kurz schimmerte ein Hoffnungsfunke in den Augen des Jungen auf, dann verfinsterte sich der Ausdruck jedoch wieder, und er schüttelte bockig den Kopf.
»Es ist wahr«, beharrte Ella. »Du gehörst in einen wunderschönen Garten, in dem
Nymphen an einem Weiher sitzen und singen.«
»Ja, das stimmt. Sie sagt die Wahrheit.« Gabriels Stimme klang verhalten, als traute er seinen eigenen Worten nicht. Ella wagte es nicht, den Blick von dem Jungen zu nehmen und sich Gabriel zuzuwenden. »Ich habe den Gesang gehört, aber das ist schon lange her. Viel zu lange.«
»Der Gesang ist da, du musst nur hinhören und ihm folgen. Vertrau mir, du kennst den Weg, der in den Garten führt. Es ist der Weg zu mir, du bist ihn schon einmal gegangen.«
Der Junge schüttelte abermals den Kopf, während ihm Tränen in die Augen stiegen. Er
weigerte sich, den entscheidenden Schritt zu tun. Zu groß war die Angst vor dem, was kommen mochte. Je größer seine Ablehnung wurde, desto kälter wurde die Wand, sodass
Ella es kaum noch ertrug, die Berührung aufrechtzuerhalten.
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