Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
blind umherirrte und sich ständig an den scharfen Kanten der Abzweigungen schnitt, ohne es zu spüren. Jemand, der auf eine Weise blutete, die Ella nicht in Worte fassen konnte, als sie das letzte Mal einen Blick auf ihn erhaschen konnte. Was aus Gabriels Wunden floss, war kein roter, aber doch ein entscheidender Lebenssaft. Wenn sie ihn nicht bald fand, würde nichts mehr da sein, das dem Mann namens Gabriel gerecht wurde, da war sie sich sicher.
Und trotzdem wurden ihre Schritte langsamer, ihr Gang schwerer. Sie hatte einen
Ausschnitt des Labyrinths gesehen, der Inkubus hatte es ihr gezeigt. Es kam einer
Unmöglichkeit nahe, an diesem endlosen und verwirrenden Ort jemanden zu finden.
Geradezu sinnlos.
Abrupt blieb Ella stehen.
Sinnlos? Warum sinnlos? Sie war ein Mensch, und somit war dieses Labyrinth keines für sie. Sie kannte den Weg, fand ihn bei jedem Erwachen. Der einzige Unterschied
bestanddarin, dass sie ihn dieses Mal im bewussten Zustand beschreiten musste … Ella schob ihre Bedenken beiseite. Sie hatte einen Weg gefunden, nicht bloß in ihrem Traum zu erwachen, sondern den Inkubus in ihrem Garten zu treffen. Und nicht nur das: Sie war sogar in diesen Grenzbereich vorgedrungen, in dem Gabriel sich verirrt hatte, geblendet, da ihm kein Dämon seine innere Dunkelheit als Schutz geliehen hatte. Diese Gänge mochten zwar alle gleich aussehen, aber es gab ein Ziel, zumindest für Ella. Sie war kein verwirrtes Häufchen Mensch, das nicht wusste, wie ihm geschah. Sie besaß einen inneren Kompass, der sie führen würde!
Vollkommen unvermittelt bohrte sich auf der einen Seite des Gangs plötzlich ein grüner Trieb durch die Wand, schlug aus und verwandelte sich in einen Heckenzweig. Ein zweiter, ein dritter und noch viele anderen Triebe folgten ihm, bis von der eintönigen Mauer nichts mehr zu sehen war. Vor Ella ragte nun eine Hecke auf, dicht gewachsen und scheinbar
unüberwindbar.
Ella packte einen der Zweige, und ehe sie sich’s versah, wuchsen ihm Dornen und stachen ihr ins Fleisch. Verblüfft zog sie die Hand zurück. Die Hecke war schlagartig mit blutroten Beeren übersät. Mit ihrer verletzten Hand pflückte Ella eine von ihnen. Sie schmeckte süß und sauer zugleich. Während der Saft ihren Gaumen kitzelte, erinnerte sie sich an den Abend mit Gabriel, als ihr bewusst geworden war, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Damals füllte der Geschmack von Johannisbeeren ihren Mund aus. Mit einem Schluchzen schluckte Ella die Beere hinunter. Als sie nach einer weiteren greifen wollte, wich der Zweig zurück. Die ganze Wand wich vor ihr zurück, öffnete sich und gewährte ihr Durchlass. Ohne Zögern schritt sie hindurch.
Auf der anderen Seite erwartete Ella kein Gang, sondern eine Röhre, gerade groß genug, um hindurchzukrabbeln. Es herrschte Zwielicht, und sie musste sich mehr auf ihren Tast-als auf ihren Sehsinn verlassen. Die Wand des runden Gangs fühlte sich spröde und holzig an. Das Innere eines hohlen Baumes, begriff sie, während die Hecke in ihrem Rücken sich wieder schloss. Ich weiß, worum es geht: meine erste und einzige Nacht mit Gabriel. Sie legte die Hand auf den Grund, spürte Splitter, die in ihre Haut eindrangen. Trotzdem wollte sich kein Durchschlupf auftun.
»Ich habe ihn gewollt, ganz egal, wie es um ihn bestellt war. Und ich will ihn immer noch, sogar noch viel mehr als zuvor«, verkündete Ella der Baumrinde, die sich jedoch
unbeeindruckt zeigte. Frustriert grub sie ihre Nägel hinein, mit dem Ergebnis, sich selbst zu verletzen. »Welche Erinnerung brauchst du, um mich ihm ein Stück näher zu bringen? Etwas aus unserer gemeinsamen Nacht? Wir haben uns geliebt, so.« Nichts veränderte sich. »Im Stehen, im Liegen, im Sitzen.«
Immer noch veränderte sich nichts, zumindest nicht im Inneren des Baumstumpfs, der
unabschätzbar weit in die Länge gezogen war. Ein weiterer Gang, der im Netz des
Labyrinthes zu enden drohte. Bei Ella allerdings tat sich etwas, zu diesem denkbar
ungünstigen Zeitpunkt. Dieses Geständnis, das sie gerade in Worte gepackt hatte, brachte nicht nur ihre Wangen zum Glühen. Das Zusammensein mit Gabriel war so vielschichtig
gewesen, liebevoll und zärtlich, zugleich stürmisch, hitzig und nach mehr verlangend. Sie erinnerte sich an seinen Hunger und sein gleichzeitiges Bedürfnis, zu geben, und wie ähnlich sie ihm darin gewesen war.
»Ich habe mich mit Leib und Seele auf ihn eingelassen«, bekannte sie. »Und ich habe kein einziges Mal
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