Dämonendämmerung - Die Auserwählte (German Edition)
Sie überlegte kurz, ob sie abnehmen und Lille von ihrer Entdeckung berichten sollte. Sie beschloss, das Klingeln zu ignorieren. Eine unbändige Unruhe trieb sie voran und duldete keine unnötige Unterbrechung. Im Moment kannte sie nur noch ein Ziel: Die alte Wassermühle am Fuß des Tales. Kurz hinter dem Ortsschild gab sie Gas. Normalerweise neigte Doro zu einem defensiveren Fahrstil. Selten fuhr sie auf den tückisch gewundenen Landstraßen schneller als achtzig Stundenkilometer. Doch der vorsichtige Teil in ihr schien mit einem Mal ausgeschaltet. Stetig führte die Straße bergab. Die kahlen, grauen Stämme der Tannen links und rechts der Fahrbahn flogen in halsbrecherischem Tempo an ihr vorbei. Sie passierte die Bushaltestelle am unteren Eingang des Tals. Kurz dahinter musste sie links abbiegen. Doro verlangsamte ihre Fahrt, um den unscheinbaren Abzweig nicht zu verfehlen. Der Weg zur Mühle hinunter war holperig, steil und führte durch ein Waldstück mit dichtem Unterholz zwischen den Nadelbäumen.
In der Dunkelheit nahm sie einen vagen Schatten wahr. Instinktiv trat sie auf die Bremse. Der Polo schlitterte ein Stück über den steinigen Untergrund, bevor er endlich stand und wenige Zentimeter vor ihrem Auto eine Eule durch das trübe Scheinwerferlicht flatterte, die sich offensichtlich bei ihrer nächtlichen Jagd gestört fühlte. Sie brauchte einen Moment, um sich von dem Schreck zu erholen.
„Was in aller Welt tust du hier?“, fragte sie sich leise.
Sie fuhr wieder an und blieb sich die Antwort schuldig. Etwa einen halben Kilometer voraus konnte sie das Ende des Waldes erkennen. Aus dem undurchdringlichen Schwarz unter den Bäumen wurde ein diesiges Dunkelgrau über den Steinachauen. Früher war sie öfters am Waldrand oberhalb der Mühle entlang geritten. Doro versuchte, sich das Anwesen ins Gedächtnis zu rufen. Damals hatte sie die Lage der einzelnen Gebäude genau gekannt, jetzt, bei Nacht sah alles formlos und gleich aus. Sie schaltete das Abblendlicht aus und parkte ihr Auto nahe den Bäumen. Hier würde das dunkle Fahrzeug am wenigsten auffallen. Außerdem wollte sie sich ohnehin nicht lange aufhalten. Auch wenn sie nicht an Geister glaubte, war ihr dieser Ort nicht geheuer. Wahrscheinlich wurden alle Kirchbronner bereits mit dem Bewusstsein geboren, dass man sich vom Höllengrund, wie die Steinach-Mühle im Volksmund hieß, besser fernhielt. Bei den Einwohnern galt sie seit der Erbauung als verwunschener Platz, um den sich die abenteuerlichsten Geschichten rankten. So lockten Irrlichter arglose Wanderer zu den moorigen Stellen, damit sie und ihre Lasttiere mit dem schweren Gepäck darin versanken. Bei Vollmond kamen Bach- und Waldgeister aus ihren Verstecken, spielten mit den Sehnsüchten der Menschen und raubten ihre Seelen. Fast Jeder in Kirchbronn kannte eine Schauergeschichte oder tragische Unfälle, die mit der Mühle in Verbindung standen. Was davon tatsächlich stimmte und was ins Reich der Märchen gehörte, war schwer zu sagen. Auf alle Fälle trugen die Erzählungen über die Jahrhunderte dazu bei, dass die meisten Menschen einen großen Bogen, um das alte Gemäuer machten.
Allmählich gewöhnten sich Doros Augen an das trübe Zwielicht. Das Wohngebäude lag noch etwa siebzig Meter entfernt. Sie konnte zwar keine Einzelheiten erkennen, aber durch die kleinen Sprossenfenster drang behagliches Licht nach draußen. Das war der Beweis. Die Mühle war bewohnt und die Frage von wem hatte sich Dank Bechtles Auskunft bereits geklärt.
Ihr Handy klingelte erneut. „Hallo, Lille“, begrüßte Doro ihre Freundin.
„Ich hab´s vorhin schon mal probiert. Wo steckst du?“ drang Lilles Stimme metallisch abgehackt durch das Rauschen der schlechten Verbindung an ihr Ohr.
„Du glaubst gar nicht, was ich entdeckt habe.“
„Doro? Ich versteh dich ganz schlecht. Wo bist du gerade?“
„Bei der alten Mühle“, rief Doro aufregt.
„Im Höllengrund?“
„Ja.“ Ein trockenes, lautes Knacken im Unterholz ließ sie aufhorchen. „Warte mal, Lille. Ich habe etwas gehört.“
„Was um alles in der Welt machst du da?“ Selbst durch den schlechten Empfang hindurch, war die Besorgnis in Lilles Worten deutlich zu hören.
Es knackte erneut. Diesmal kam das Geräusch aus nächster Nähe.
„Ich glaube, da ist jemand“, flüsterte Doro und starrte angestrengt in die Dunkelheit und legte das Handy zur Seite. Zunächst konnte sie niemanden entdecken, dann schälte sich langsam eine Gestalt aus
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