DÄMONENHASS
den Körper gestoßen, um sie am Herz zu zwicken. Nicht um sie zu töten, sondern um sie zu lähmen. Denn sie waren immer noch am Leben oder besser: untot.
Es konnte nicht hinausgezögert werden, nicht einmal – oder gerade – um Elenis willen. Lardis hatte Nathan gezeigt, was zu tun war, und jetzt musste er es vollbringen. Er tat, was er tun musste, auch bei Eleni, und spürte erst ganz zum Schluss, dass ihn jemand beobachtete. Es war der Junge, der am Fluss geangelt hatte, der einzige Überlebende, der nun am Rand des Feuerscheins stand, mit leerem Blick, ausgemergelt wie ein Gespenst und mit eingefallenen, kalkweißen Wangen.
Nathan sprach ihn an; der Junge ignorierte ihn. Er ging zu ihm, fasste ihn am Arm, und der andere – kaum den Kinderschuhen entwachsen – fauchte ihn an und fletschte die Zähne. Nathan wich ein paar Schritte zurück und musterte ihn gründlich. Aber an ihm war kein Wundmal zu entdecken, weder Prellung noch Einstich. Er hatte einfach nur ... Glück gehabt – wenn man seine Rückkehr, um dieses Anblicks gewahr zu werden, so nennen konnte.
Schließlich ließ Nathan ihn stehen, und der Junge sah weiter zu, wie seine Welt in Flammen aufging. Nathan holte eine Decke aus einem der Wagen, ging eine kurze Strecke abseits des Brandstreifens auf die Grasebene hinaus, suchte sich eine Vertiefung im Boden und legte sich schlafen. Als er später erwachte, blickte er zum Lager und sah den Jungen immer noch dort stehen, wo er ihn zurückgelassen hatte. Er wollte ihn schon anrufen, schüttelte jedoch den Kopf, überließ den Jungen seinem Gram und schlief wieder ein.
Acht Stunden später hatte der Wind sich gelegt. Die Reste des Feuers glommen noch, und die Eisenholzbäume waren nur noch geschwärzte Baumleichen am Waldrand. Der Junge war nicht mehr da. Nathan stand auf und ging zu der Brandstätte zurück, um nach ihm zu suchen. Als ihm die letzte Gelegenheit einfiel, da er diesen Ort betreten hatte, sah er diesmal nach oben. Und ja, da hing der Junge, kalt und tot.
In ihm war kein Leben mehr, gleich welcher Art; aber Nathan konnte ihn nicht einfach den Krähen überlassen. Er griff nach oben, packte ihn an den Beinen und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht ein. Das erschien grausam, aber Nathan hatte keine Kraft mehr, jedenfalls nicht genug, um hinaufzuklettern. Es funktionierte. Das dünne Seil zerriss, und der Junge plumpste herab.
Nun musste Nathan nur noch ein Feuer entfachen ...
In der Mitte der langen Nacht wickelte Nathan sich unter den kalt funkelnden Sternen in seine Decke und schlug den Weg nach Süden über das Grasland ein. Er warf keinen einzigen Blick zurück auf das letzte Totenfeuer, das hinter ihm brannte.
Er nahm nichts mit bis auf die Decke, die Kleidung, die er
am Leib trug, den Lederstreifen mit der halben Drehung an seinem linken Handgelenk, an dem seine Mutter ihn in der allerfinstersten Nacht noch hatte erkennen können. Das schien jetzt einer anderen Welt, einem anderen Leben anzugehören. Der Lederstreifen war etwas Vertrautes – sein Wahrzeichen? Ein Abbild seiner Identität? Nathan hatte ihn durch seine gesamte Kindheit hindurch behalten und ihn immer wieder ersetzt, wenn der Umfang seines Handgelenkes von dem eines Kindes zu dem eines Jungen und schließlich dem eines Mannes zugenommen hatte. Auch Nestor hatte seinen Lederstreifen behalten, den geraden ohne halbe Drehung – aber in Nathans Gedanken kam er nur noch als fernes Echo vor.
In seinen Gedanken kam überhaupt nur noch sehr wenig vor. Lediglich die Gesichter der Toten zogen an ihm vorüber: Seine Mutter, Misha, Nikha Sintana und seine Wanderer, Eleni. Aber sie wurden immer undeutlicher, als sein Verstand neue Wege entdeckte, sie auszulöschen. Denn manchmal kann eine Erinnerung – ein Gesicht oder ein Bild – zu schmerzlich sein, um wieder aufgerufen zu werden. Nathan hatte die Stufe erreicht, auf der seine gesamte Vergangenheit ihn zu sehr schmerzte. Es war schon sonderbar, aber ihm war der Gedanke gekommen, dass ein Mann ohne Vergangenheit nur wenig hat, um darauf eine Zukunft aufzubauen. Darum wanderte er nun über das Grasland in Richtung Wüste, denn er hegte nicht länger den Wunsch nach einer Zukunft.
Wenn er müde war, setzte er sich nieder, wenn er schlafen musste, schlief er, Hunger und Durst ließ er ungestillt. Er wusste, wenn die Erschöpfung es nicht vermochte, würde ihn die Entbehrung ganz sicher töten – die Entbehrung dessen, was man ihm genommen hatte, aber auch dessen, was er
Weitere Kostenlose Bücher