DÄMONENHASS
weicher als über der Sternseite und dem Grenzgebirge. Nathan entfernte sich über den abgekühlten Sand von der Oase. Im Schweigen und der fast schmerzhaften Einsamkeit der Wüste drangen Thikkouls Gedanken umso klarer in seinen Geist. Lege dich nieder, schau nach oben, sieh in die Himmelsgefilde. Lass mich durch deine Augen alle Zeiten erblicken, die waren, die sind und die sein werden. Denn so wie das Licht von den Sternen unsere Vergangenheit ist, so ist es auch unsere Zukunft. Nur ...
»Ja?« Nathan breitete eine Decke aus, legte sich darauf und sah zu den Sternen auf. Ebenso wie Thikkoul.
Nur ... sollte ich dich zuerst warnen: Die Dinge sind nur selten so, wie ich sie sehe.
»Du irrst dich also?«
Oh, ich sehe schon, was ich sehe!, erwiderte Thikkoul rasch. Aber wie die Dinge, die ich erblicke, sich ereignen werden, ist nicht immer deutlich. Die Zukunft ist trügerisch, Nathan. Man muss tapfer sein, um sie zu erschauen, und nur ein Narr würde sich für ihre Bedeutung verbürgen.
»Das verstehe ich nicht.« Nathan runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
Thikkoul blickte durch Nathans Augen auf die Sterne – erblickte sie zum ersten Mal seit hundert Jahren wieder – und seufzte. Ahhh! Als Junge und als Mann faszinierten sie mich, und sie faszinieren mich immer noch. Ich stehe in deiner Schuld, Nathan Kiklu von den Szgany. Aber ein Entgelt mag sich für uns beide als schwer erweisen.
»Nein, das ist ganz leicht. Lies meine Zukunft, das reicht schon aus.«
Aber das meinte ich doch. Was ist, wenn ich dir schwere Zeiten vorhersage? Muss ich dir dein Verhängnis ebenso offenbaren wie deinen Erfolg?
»Was immer du erblickst, wird genug sein.«
Ich werde mein Bestes tun , versprach der andere und verfiel eine Zeit lang in Schweigen. Dann ... brach es wie eine Flut, ein Blitz, wie ein über die Ufer tretender Fluss mit einer solchen Wucht über Nathan herein, dass er kaum die Worte und Bilder zu fassen vermochte, die Thikkoul in seinen Geist schleuderte:
Ich sehe ... Türen! Wie die Türen auf hundert Wagen der Szgany, aber flüssig, gezeichnet auf Wasser, gebildet aus Wellen. Und hinter jeder dieser Türen – ein Stück deiner Zukunft. Eine Tür öffnet sich. Ich sehe einen Mann, einen Szgany, einen sogenannten ›Mystiker‹. Sein Name lautet – Io... Io... Iozel! Und sein Geschäft – ist der Betrug! Jetzt sehe ich Turgosheim; die Stätte eines großen Magiers; du und er zusammen. Er will dich benutzen, von dir lernen, dich unterweisen und verderben! Die Tür schließt sich, aber eine weitere tut sich auf ...
Die Sonne geht auf und wieder unter, und Sonnaufs folgen rasch aufeinander, während du ein großes finsteres Schloss mit vielen Höhlen durchwanderst. Ich sehe dein Gesicht: die eingefallenen Augen, das ergrauende Haar? Jetzt sehe ich ... einen Flug in die Freiheit, oh ja! Aber ... auf einem Drachen? Eine Tür schließt sich und eine andere tut sich auf. Ich sehe .... eine junge Frau, euch beide – euch drei? – gemeinsam. Du scheinst glücklich zu sein; mehr und mehr Türen tun sich auf und schließen sich wieder; und jetzt wirkst du traurig ...
Einige Stunden sind so lang wie Tage, andere eilen wie Sekunden dahin; doch ob lang oder kurz, sie ziehen dich in die Zukunft. Und immer wieder öffnen und schließen sich die Türen deines Geistes. Ich sehe ... eine Schlacht – einen Krieg! – Szgany und Wamphyri! Du gewinnst und du verlierst. Jetzt sehe ich ein Auge, weiß und blind und gleißend, fast wie die meinen, ehe ich starb, aber so gewaltig wie eine Kaverne! Du stehst davor, und das Auge ... ist eine weitere Tür! Es blinzelt! Und binnen eines Blinzelns dieses gewaltigen blinden Auges bist ... du ...
Thikkoul hielt inne, als müsse er nach Atem ringen.
»Ja?« Nathans körperliche Stimme klang heiser vor Aufregung ... Thikkouls Totensprache dagegen ›klang‹ heiser vor Grauen, als er schließlich fortfuhr:
Du bist – verschwunden!
DRITTES KAPITEL
In den kalten, freudlosen Stunden unmittelbar vor dem Morgengrauen, die Nathan nun, da er auf sich allein gestellt war, nur noch kälter und einsamer erschienen, ließ er die Oase hinter sich und wanderte über die Sanddünen, die die unterirdischen Höhlen der Thyre vor neugierigen Blicken bewahrten. Er hatte die Auskunft erhalten, dass der Weg zwischen der Oase und der Sonnseite nicht sehr beschwerlich sei, aber er hatte sich ohnehin an das Gehen im Wüstensand gewöhnt und empfand es nicht als besonders anstrengend. Die Nacht
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