DÄMONENHASS
Schacht gerissen und war für immer verloren ...
Am Ende seiner Geschichte hatte Thikkoul geseufzt, war in Schweigen verfallen und hatte auf Nathans Antwort gewartet.
»Aber wenn er allein in die Wüste ging«, hatte Nathan schließlich nachgefragt, »woher hast du dann von der Reihenfolge der Ereignisse erfahren?« Da hatte er erneut das Achselzucken des anderen gespürt und dadurch die Antwort erraten können, ehe er sie vernahm. Natürlich war es durch die Totensprache geschehen, durch jene gemeinsame Fähigkeit der Großen Mehrheit, die auch Nathan zu eigen war, sich miteinander in ihren Gräbern zu unterhalten.
Weil er mir das alles am Tag meines Todes berichtet hat! , bestätigte Thikkoul seine Vermutung. Und seine ›Ruhestätte‹ ist wahrhaft und auf einzigartige Weise schrecklich, Nathan, denn dort kennt er gar keine echte Ruhe! Er wurde in einer wirbelnden Sammelgrube gefangen, wo bis zum heutigen Tage seine Leiche in dem schäumenden Aufruhr sich dreht und überschlägt. Sein Fleisch wurde ihm schon lange von den Knochen gespült. Und diese Knochen sind sämtlich geborsten und durch das wirbelnde Wasser zu runden Murmeln geschliffen. Aber zumindest hat er keine Angst mehr vor dem Wasser, das ihm schon das Allerschlimmste angetan hat ...
Später hatte sich Nathan bei den Fünf der Fluss-Schnelle erkundigt, ob sie etwas über einen Mann wüssten – einen Szgany, möglicherweise einen ›Mystiker‹ –, der auf der Sonnseite lebte. Sie kannten ihn tatsächlich: Sein Name war Iozel Kotys, und er hatte vor Zeiten mit den Thyre Tauschhandel getrieben. Er hatte schlechte Messer aus Eisen gegen ihre guten Häute und Medizinen getauscht. Aber ein Mystiker? Das war eine Täuschung von Iozel gewesen, mit der er sich Zeit seines Lebens vor der Tributaufnahme gedrückt hatte. Nun war er über seine besten Tage weit hinaus und hatte diesen Mummenschanz nicht mehr nötig. Aber Iozel Kotys hatte immer noch seinen Verstand beieinander! Unter den Szgany ging sogar das Gerücht, dass er auf der Sternseite in Turgosheim gewesen wäre! Wenn das zutraf, war Iozel der einzige Mensch, der je unverändert von diesem schrecklichen Ort zurückgekehrt war.
Danach schien es für Nathan keine andere Möglichkeit zu geben, als die Sonnseite aufzusuchen. Denn von Thikkouls Vorhersagen einmal abgesehen – sogar trotz dieser Vorhersagen und in ihrer Vorwegnahme – hatte er letztlich die gesamte Breite der bekannten Welt durchquert, um eben genau das zu tun. Ursprünglich hatte er sehen wollen, wie die Szgany dieser Weltgegend lebten, um zu erfahren, wie sein eigenes Volk eines Tages unter dem Schatten der Wamphyri würde leben müssen. Darüber hinaus hatte er jedoch noch einige weitere Gründe.
Thikkoul hatte ihm einen ganzen Wust von Eindrücken vermittelt, aber neben den ›gesprochenen‹ Worten waren auch verschwommene, undeutliche Bilder zur gleichen Zeit aufgetaucht, wie der Sterndeuter sie gesehen hatte. Ein Eindruck von sich öffnenden und schließenden Türen; undeutliche Gestalten (meist Nathan selbst) in rasch aufeinanderfolgenden Situationen und Örtlichkeiten; fremde Gesichter, die ihn anstarrten oder musterten. Nur ... waren zwei dieser Gesichter keineswegs fremd gewesen, sondern liebevoll und geliebt.
Nathan fielen Thikkouls Worte wieder ein und mit ihnen das Bild, das mit ihnen einhergegangen war. Ich sehe ... eine junge Frau, euch beide – euch drei? – gemeinsam. Du scheinst glücklich zu sein ...
Natürlich schien er glücklich zu sein, wenn die Vision zutraf. Aber wie konnte das sein? Die verschwommenen, wabernden Frauengestalten hatten die frohen, leuchtenden Gesichter seiner Mutter und Misha Zanestis besessen! Deshalb hatte Nathans Stimme am Ende von Thikkouls Deutung auch heiser vor Aufregung geklungen. Doch als er jetzt über die weiteren Worte des Sterndeuters nachdachte, wich seine Aufregung Zweifeln und Unsicherheit.
Nathan war stets davon ausgegangen, dass seine Mutter und Misha tot waren oder ein noch schlimmeres Schicksal erlitten hatten, auch wenn er nie ihre Leichen gesehen oder ihren Aufenthaltsort gekannt hatte. Und wie sollte er jetzt von ihnen denken? Thikkoul hatte gesagt: Dies sind Dinge aus deiner Zukunft, die vielleicht mit deiner Vergangenheit verbunden sind. Und daher musst du sie erkennen und verstehen.
Aber wie sollte er sie verstehen? Waren die Gesichter seiner Lieben aus vergangenen Zeiten nur Bilder aus der Vergangenheit, die noch Einfluss auf seine Zukunft hatten? Natürlich
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