Dämonenkind 01 - Kind der Magie.pdf
Gefangenen den Großen Saal erreichte, schweifte Tarjas Blick über all die Schwestern, Novizen, Seminaristinnen, Hüter, Bediensteten und Besucher der Festungsstadt, die sämtliche Gehwege und Balkone der Nachbarschaft füllten, um Augenzeugen seiner Ankunft zu sein. R'shiel hatte nicht den Eindruck, dass Tarja einem Besiegten glich, er wirkte erzürnt, aber fühlte sich anscheinend keineswegs bezwungen. Er ritt dahin, als wären seine Bewacher ein Ehrengeleit. Wahrhaftig hatte er sogar die gleiche, leicht spöttische, onkelhafte Miene aufgesetzt, die er zeigte, wenn er sich über R'shiel lustig machte.
»Der arme Mann«, sagte jemand, der vor R'shiel stand, mit leiser Stimme. »Welche Erniedrigung er erleiden muss ...«
Wie schwer es ihm wohl fällt , überlegte R'shiel, in die Zitadelle zurückzukehren, nachdem er dem Hüter-Heer den
Rücken gewandt hat? Muss ihm nicht kalt ums Herz werden?
»Er ist so tapfer«, seufzte eine versonnene Frauenstimme.
»Ein Verräter ist er«, stellte ein anderer Gaffer klar.
»Früher einmal war im Gespräch, er könnte der nächste Hochmeister werden.«
»Nun wird er hoch baumeln«, scherzte ein Spaßvogel und entlockte damit einigen Umstehenden abgehacktes Gelächter, anderen hingegen ein kummervolles Aufstöhnen.
Eindrucksvoll kam die ganze Kolonne vor dem Großen Saal zum Stehen - beziehungsweise vor dem Seh wester-Fr an cil-Saal, wie er ja inzwischen hieß. Der Oberste Reichshüter und Obrist Garet Warner schritten die Freitreppe herab. Es wunderte R'shiel, dass das Quorum den Hütern diesen Auftritt gestattete, anstatt Tarja selbst öffentlich in Gewahrsam zu nehmen. Halb hatte sie erwartet, das gesamte Quorum vor dem Saal stehen zu sehen und es den Abtrünnigen mit klangvollen Worten anprangern zu hören. Über seine sonstigen Vergehen hinaus war Tarja jedoch Hüter-Hauptmann gewesen und zum Fahnenflüchtigen geworden. Vielleicht glaubte Frohinia, dass die Hüter für ihn die angemessenste Strafe ersannen. Meister Draco wendete sein Ross und wandte sich an den Obersten Reichshüter.
»Ich wünschte, man könnte besser verstehen, was sie reden«, murrte nahebei jemand halblaut. Doch zum Vorteil aller Neugierigen erfasste eine bemerkenswerte Stille die Zuschauermenge, weil sehr viele Leute angestrengt die Ohren spitzten, um ein paar Worte der Unterhaltung aufzuschnappen. Die allgemeine gebannte Erwartung erfüllte die Luft mit einer Spannung, als stünde ein Sommergewitter bevor. Es schien, als hielte die Zitadelle den Atem an. R'shiel beobachtete das Geschehen und lauschte auf die Stimmen, deren Äußerungen durch die unnatürliche Ruhe wehten.
»Voller Stolz habe ich die Ehre, Hochmeister, Euch den Fahnenflüchtigen Tarjanian Tenragan zu übergeben«, tönte Draco, der offenbar vollauf bewusst die Aufmerksamkeit der großen Zuschauermenge genoss. Es geschah nicht oft, dass der Kämpe der Ersten Schwester an einem Einsatz des Hüter-Heers teilnahm, und überdies war Draco das scheinbar Unmögliche gelungen. Er hatte den Erfolg errungen, der Jenga versagt geblieben war: nämlich Tarja einzufangen.
»Hat er Widerstand entboten?«, erkundigte sich der Oberste Reichshüter, indem er den Blick auf Tarja heftete.
»Nachdem wir ihn überwältigt hatten, blieb er weitgehend friedlich, Hochmeister.«
»Und wo sind die übrigen Rebellen?«
»Er ist allein gewesen«, sagte Draco. »Eingedenk der Tatsache, dass die Erste Schwester befohlen hatte, ihn lebendig zu fassen, habe ich es als angebracht erachtet, seine Vernehmung Euch zu überlassen.«
»Gut so«, brummte Jenga. »Wahrscheinlich wäre er lieber gestorben, als Euch etwas mitzuteilen. Bringt ihn her.«
Tarja musste den Wortwechsel gehört haben, denn er schwang ein Bein über den Sattelknauf und sprang vorsichtig vom Pferd, bevor jemand sich ihm nähern konnte. Als ob die Fesseln, die ihm die Hände auf den Rücken banden, ihn an nichts hinderten, erklomm er die Treppe und verbeugte sich vor dem Hochmeister und Obrist Warner.
»Einen wunderschönen, guten Morgen, Hochmeister«, sagte er. »Guten Morgen, Obrist. Heute ist ein herrlicher Tag zum Hängen, meint Ihr nicht auch?«
»Tenragan, solltet Ihr nicht etwas mehr Reumut zeigen?«, tadelte ihn Meister Draco.
»Und all diese reizenden Damen enttäuschen?«, hielt ihm Tarja entgegen, indem er zu den dicht belegten Baikonen aufschaute. »O nein. Wie geht's übrigens meiner werten Mutter? Ich hätte gedacht, sie wäre zur Stelle, um ihren abgeirrten Sohn zu
Weitere Kostenlose Bücher