Dämonenkind 01 - Kind der Magie.pdf
lediglich als einzigartige bauliche Errungenschaft, die das Verständnis der Novizinnen überstieg. Auch R'shiel sah darin die glaubhaftere Erklärung. Die Schwestern bewahrten dazu gänzliches Stillschweigen. Tarjanian hatte einmal die Ansicht geäußert, der Grund sei, dass die Zitadelle vor Hunderten von Jahren eine Großanlage heidnischer Tempel umfasst habe. Gleich was die Ursache sein mochte, auf alle Fälle verglosten die leuchtkräftigen Wände selbst in die tiefsten Winkel der gewaltigen, weißen Festung mit ihren hundert großen und kleinen Sälen weiches, weißliches Licht. Dessen allmähliche Trübung machte R'shiel darauf aufmerksam, dass sie sich abermals zu spät einfand.
Das unterdrückte Murmeln zahlloser Stimmen drang an ihr Ohr, als sie die schwere Tür des Kleinen Saals aufstemmte. Die Novizinnen und Seminaristinnen hatten sich jeden Abend unter der Aufsicht höherer Schwestern im Großen Saal zu versammeln, um Schwester Param und den Gründungsschwestern für die Erlösung vom Joch des heidnischen Götzendienstes zu danken. Schon als kleines Kind hatte R'shiel die Tägliche Danksagung auswendig aufzusagen gelernt, und die Strafe für mangelnde Begeisterung beim Danken war ihr wohlbekannt. Harith schwang die Rute ebenso zielsicher wie schmerzhaft. Der einzige Vorteil, den R'shiel nach ihrem Empfinden aus der Verpflichtung zog, die Feierlichkeit zu besuchen, war die Gnade, der Täglichen Danksagung fern bleiben zu dürfen.
Obwohl die Helligkeit der Mauern eben erst nachließ, glommen im Kleinen Saal Hunderte von Kerzen. Die Räumlichkeit hatte die halben Abmessungen des Großen Saals, und das bedeutete, dass ohne Umstände fünfhundert Menschen darin Platz fanden. Weiße Farbe bedeckte das von schlanken, geriffelten Säulen gestützte Deckengewölbe, ohne Zweifel, um die unzüchtigen heidnischen Darstellungen zu übertünchen, die den Saal ursprünglich geziert hatten. Wie alle Mauern in der Zitadelle waren die Wände weiß und bestanden aus dem sonderbaren, unempfindlichen Baustoff, der sich mit der Verlässlichkeit eines Hüterschwurs des Morgens erhellte und am Abend trübte.
R'shiel schaute sich um und erblickte, während sie sich dicht an der Wand hielt, auf der anderen Seite des Saals Frohinia im Gespräch mit Schwester Jacomina und dem karischen Gesandten. Mit ein wenig Glück konnte sie ihrer Mutter weismachen, pünktlich eingetroffen zu sein. Offen trotzte R'shiel ihrer Mutter nur selten - so närrisch war sie beileibe nicht; vielmehr hatte sie es gelernt, den feinen Grad zwischen Nachgiebigkeit und Bestimmtheit zu beschreiten.
Frohinia hob den Blick, bemerkte sie und runzelte die Stirn. R'shiel gab den Versuch auf, sich zu verstecken, und beschloss, auf ihr Glück zu vertrauen. Sie straffte die Schultern und schob sich durch die versammelten Schwestern und Hüter geradewegs auf ihre Mutter zu.
»Bitte verzeih die Verspätung, Mutter«, sagte sie und vollführte einen achtungsvollen Knicks, sobald sie vor
dem Dreigespann stand. »Ich habe einer Klassenkameradin beim Lernen geholfen und darüber wohl die Zeit aus den Augen verloren.«
Besser dieses Eingeständnis, als wenn Frohinia erfahren hätte, dass sie sich verspätet hatte, weil Georj Drake sie im fortgeschrittenen Messerwerfen unterwies. Zwar konnte sich R'shiel nicht ausmalen, jemals Verwendung für eine solche Befähigung zu haben, aber als Zeitvertreib war es so unweiblich, dass sie der Gelegenheit, es zu erlernen, unmöglich widerstehen konnte. Bisweilen bereitete ihre Neigung, vorsätzlich Dinge zu wagen, die Frohinia unzweifelhaft aufs Ärgste missbilligen musste, sogar R'shiel selbst Sorge.
Ihre Mutter durchschaute die Lüge, aber nahm sie hin. »Ich hoffe, deine Klassenkameradin weiß das Opfer zu schätzen.« Ihren leicht spöttischen Ton kannte R'shiel aus langer Erfahrung. Frohinia wandte sich an den Gesandten. »Ritter Pieter, erlaubt mir, Euch meine Tochter R'shiel vorzustellen.«
Höflich machte R'shiel vor dem Gesandten einen zweiten Knicks. Pieter war ein stattlicher Mann mit trägen braunen Augen und dem matten Gehabe eines übersättigten Aristokraten. Er nahm R'shiels Hand und küsste darüber die Luft. Blechern knirschte sein Zeremonialkürass, als er sich verbeugte.
»Ein reizendes Kind«, sagte er, indem er sie von oben bis unten musterte und ihr dadurch gehöriges Unbehagen einflößte. »Und wie ich von deiner Mutter weiß, meine Liebe, eine fleißige Schülerin.«
»Ich tue mein Bestes, um das
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