Dämonenkind 01 - Kind der Magie.pdf
ist das Hauptwerkzeug, mit dem die Schwesternschaft die Bevölkerung im Zaum hält. Warum die Frage?«
»Wenn die Menschen nicht lesen können, wozu dann der Aufwand, kämpferische Schlagworte an Mauern zu schreiben?«
»Die Schwestern verstehen sie zu lesen. Es hat den Zweck, sie zum Nachdenken zu zwingen.«
»Und bewährt sich das Verfahren?«
»Auf jeden Fall jagt es ihnen Beunruhigung ein. Die Schwestern lesen die Schlagworte, und sie stellen sich die gleiche Frage wie du: Warum wird etwas an Mauern geschrieben, obwohl das gemeine Volk nicht lesen kann? Als Nächstes fragen sie sich, ob die Bevölkerung vielleicht doch dazu fähig ist, aufrührerische Schriften zu lesen. Und so führt eine Sorge zur nächsten.«
»Du bist sehr leicht zu unterschätzen, Tarjanian.«
»Du solltest es dir merken.«
Ohne jede Behelligung gelangten sie zu dem Gasthof. Das Haus war, so wie die ganze Stadt, aus roten Ziegeln und grauem Schiefer erbaut worden und erwies sich als sauber und vorzüglich geführt. Als die Flüchtlinge im Hof absaßen, begrüßte die Inhaberin sie erfreut.
Ihr Name lautete Affiana. Verblüfft sah Tarjanian, dass die Frau Brakandarans Schwester hätte sein können. Ihre Gestalt war so vollkommen, als hätte ein Bildhauer sie geschaffen; sie hatte schwarzes Haar und begrüßte die Gruppe, als hätte sie über ihre bevorstehende Ankunft Bescheid gewusst. Brakandaran empfing sie mit einem Lächeln der Erleichterung, bevor sie sich an seine Begleiter wandte. Als Nächste sprach sie Mahina an.
»Hohe Dame, es ist für mich eine Ehre, dass Ihr mein Haus betretet.«
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite«, beteuerte Mahina höflich.
Anschließend verbeugte Affiana sich vor Dace. »Auch dass du meine Herberge aufsuchst, bedeutet mir eine Ehre, Göttlicher, doch bitte ich dich, sie von deinem Segen zu verschonen. Ich habe mit deinen Anhängern schon Kummer zur Genüge.«
Die ungewöhnliche Begrüßung nötigte Dace ein breites Grinsen ab. »Dir zu Liebe, Affiana, will ich Zurückhaltung wahren.«
Affiana atmete sichtlich auf, als sie die Antwort hörte. Befremdet betrachtete Tarjanian den Burschen von der Seite. War er auch Harshini? Das wäre eine Erklärung für seine Anwesenheit, nicht dagegen für Affianas ehrfürchtigen Ton oder die Anrede »Göttlicher«. Der bloße Anschein zeigte keine überragenden Eigenschaften des Jünglings, und Brakandaran jedenfalls verhielt sich nicht, als brächte er ihm irgendwelche Hochachtung entgegen.
Dann heftete die Wirtin einen neugierigen Blick auf Tarjanian. »Ach, und Ihr seid der als windig verschriene Tarjanian Tenragan. Ich rate Euch, verhaltet Euch unauffällig, solange Ihr Euch in Testra aufhaltet. Man hat Euch hier nicht vergessen.«
Tarjanian blieb die Gelegenheit zum Antworten versagt, da Affiana sich nun Songard und R'shiel zuwandte. »Und nun zu Euch, denn auch Ihr seid mir willkommen, meine Lieben. Folgt mir, damit Ihr Euch erfrischen könnt, ehe wir uns an den Mittagstisch setzen.«
Bei Songard löste die Herzlichkeit der Begrüßung eine gewisse Fassungslosigkeit aus. Dagegen änderte sich bei R'shiel nichts an der kühlen Abweisung, die sie seit dem Entrinnen aus Grimmfelden an den Tag legte.
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Zur Mittagsstunde wurde überreichlich aufgetragen, und ebenso am Abend; beide Mahlzeiten galten den Flüchtlingen als erfreuliche Abwechslung von der trockenen Verpflegung der vergangenen Tage. Affiana stellte ihnen einen gesonderten Speisesaal zur Verfügung und veranlasste, dass sie großzügig mit köstlichen Gerichten und Wein bewirtet wurden. Nur Dace ließ sich nach der Ankunft nicht mehr blicken, doch wirkte Brakandaran nicht, als ob das Verschwinden des Burschen ihm Sorge bereitete. Die Zimmer waren recht geräumig, hatten weiche Betten mit sauberen Laken und Daunenbettzeug. Der Gasthof war wesentlich größer als das Gasthaus Zur Verlorenen Hoffnung in Grimmfelden; er hatte drei Geschosse und über die üblichen Räumlichkeiten hinaus mehrere Säle, und die Schankstube lockte während des ganzen Tages durstige Kehlen an. Zwar empfand Tarjanian diese Gastlichkeit als durchaus angenehm, aber auch ein wenig erdrückend in ihrer Tadellosigkeit.
Im Anschluss an das Nachtmahl suchte er unter dem Vorwand, er wolle nach den Pferden sehen, die Stallungen auf; die Tiere bedurften seiner Fürsorge nicht - Affiana beschäftigte genug Stallknechte -, aber er wollte eine Weile allein sein. Er brauchte eine Gelegenheit zum Nachdenken. Noch wichtiger war
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