Dämonenkind 01 - Kind der Magie.pdf
eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass der Capitan den Gläsernen Fluss zu schlecht kannte, um eine nächtliche Befahrung zu wagen.
Sie versuchte zu ruhen, weil sie sich davon versprach, dass der Schlaf ihr die Qualen des Kummers, der schmerzenden Schulter sowie des Magenknurrens und des ausgedörrten Gaumens ersparte, da hörte sie im Türschloss etwas rasseln. Seit der Mahlzeit im Testraer Gasthof hatte sie keinen Bissen mehr gegessen. Der Teil ihres Gemüts, den noch die Trauer beherrschte, hoffte darauf, dass es nicht zu lange dauerte, an Hunger und Durst zu sterben; der andere Teil, der noch immer nach Nahrung und Wasser lechzte, begehrte beides mit einer Besessenheit, die ihren Gram beinahe verdrängte. In R'shiel brannte ein Lebensfunke, der zu stark war, als dass Trauer und Schmerz ihn hätten ersticken können.
Elfron öffnete die Tür und befahl R'shiel aufzustehen. Sie raffte sich, teils aus körperlicher Schwäche, teils aus Furcht, nur langsam auf. Sobald sie stand, packte er ihren Arm und zog sie aus der Kammer. Durch den Korridor nötigte er sie zu einer Räumlichkeit mit prächtig verzierten Türflügeln. In der linken Faust hielt er Xaphistas Stab. Bei diesem Anblick erkannte R'shiel, dass ihre insgeheime, selbstgefällige Auffassung, nichts könne den Schmerz übertreffen, den ihr Tarjas Verlust bereitete, auf eitle, nichtige Prahlerei hinauslief, wenn sie den Stab unmittelbar vor Augen hatte.
Die Kabine hatte eine überaus pomphafte Ausstattung. An der gesamten Einrichtung - dem Kopfende des Betts, den Stühlen, den getäfelten Wänden - glänzten Goldeinlagen, vornehmlich Abbildungen des fünfzackigen, von einem Blitz gekreuzten Sterns. Sogar auf dem blauen Samtbettzeug prunkte dieses Wahrzeichen und war mit goldenem Garn aufs Schönste aufgestickt worden.
Die Pracht der Räumlichkeit verschlug R'shiel schier den Atem.
»Du befindest dich in der Gegenwart eines Dieners des Allmächtigen«, stellte Elfron fest. »Du bist schmutzig. Ehe wir uns Weiterem widmen, hast du dich zu säubern und züchtig zu kleiden.« Er zeigte auf einen Krug und eine Waschschüssel, die auf dem Tisch neben einem zugedeckten Tablett standen. Auf einer Stuhllehne hing eine raue Kutte in der Art, die auch Elfron trug, ein Kleidungsstück, das inmitten der prächtigen Umgebung umso bescheidener und schlichter wirkte. Argwöhnisch musterte R'shiel den Kaplan, aber anscheinend hatte er an ihr kein größeres Interesse als an irgendeinem Tier. Also tat sie wie geheißen und wandte ihm während des Entkleidens den Rücken zu. Elfron schaute ihr so gleichgültig beim Waschen zu, als wäre sie eine Katze, die sich das Fell leckte. Schließlich streifte sie die grobe, kratzige Kutte über und drehte sich um.
»Du darfst essen«, sagte Elfron und deutete auf das Tablett.
R'shiel entfernte den Deckel und fand darunter einen Laib trockenen Schwarzbrots und eine kleine Karaffe Wein. Unter den gegebenen Bedingungen empfand sie dieses Angebot als einen echten Festschmaus. Gierig verschlang sie das Brot und trank den mit Wasser verdünnten Wein bis zum letzten Tropfen. Unterdessen beobachtete sie den Priester im Augenwinkel. Doch Elfron befasste sich nicht mit ihr, bis sie das Mahl beendet hatte. Erst als sie sich mit dem Handrücken ein Krümelchen vom Mund wischte, nickte er zufrieden.
»Nun verrate mir, wo der Harshini-Schlupfwinkel liegt«, forderte er im gleichen Befehlston, in dem er sie angewiesen hatte, sich zu waschen und das Essen zu verzehren.
Voller Unbehagen äugte R'shiel den Stab an, ehe sie antwortete. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»Lügen ist Sünde. Gib mir ehrliche, wahrheitsgetreue Auskünfte, oder Xaphistas Zorn wird dich durch den Stab treffen.«
»Ich kann über nichts Auskunft geben, von dem ich nichts weiß. Die Harshini sind tot. Ich bin keine von ihnen. Ich bin ein Mensch wie du.«
»Du bist kein Mensch«, behauptete Elfron und packte den Stab mit beiden Händen. Geradezu bedrohlich glitzerte der Laternenschein auf den Edelsteinen. »Du bist der Inbegriff des harshinischen Übels. Im Körper einer Hure gehst du um, der keinen anderen Zweck hat, als den Gerechten von seinem wahren Weg fortzulocken. Du trägst deinen Weiberleib zur Schau und verführst mit gottloser Magie fromme Seelen. In einem Traumgesicht hat der Allmächtige zu mir gesprochen und dich zum Opfer verlangt. Sein Wille muss und soll erfüllt werden.«
Während seines verrückten Geschwafels wich R'shiel vor ihm zurück.
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