Dämonisches Tattoo
ehrlich zu sein, wollte er gar nicht länger darüber nachdenken und den eisigen Hauch schnellstens vergessen, dessen Brennen er in seinen Atemwegen gespürt hatte; was ihm immer dann gelang, wenn er sich an den Rest dieses seltsamen Erlebnisses erinnerte. Hatte er wirklich durch die Augen des FBI-Agenten geblickt? Auf einer Skala der Möglichkeiten lag die bloße Vorstellung, dass das passiert sein könnte, irgendwo zwischen vollkommen lächerlich und absolut unmöglich. Noch seltsamer jedoch war gewesen,
was
er gesehen hatte. Cassell, der seinen ehemaligen Partner mit der Waffe bedrohte. Spätestens das war wohl der Punkt, an dem er das Ganze als Spinnerei abtun sollte, doch die Bilder verfolgten ihn. Agent Ryan hatte Schmerzen gehabt und sein Verstand war auf eigenartige Weise umwölkt gewesen. Er schüttelte den Kopf. Woher zum Teufel sollte er wissen, was im Gehirn des FBI-Mannes vor sich ging? Aber er hatte es gespürt, als wäre es sein eigener Körper gewesen.
Bullshit!
Seine Aufmerksamkeit kehrte zu den Fotos zurück, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Vier Frauen – und Jane Mercer. Daneben und darunter lagen seine Aufzeichnungen ausgebreitet. In kleinen, akribischen Buchstaben hatte er über Wochen und Monate hinweg jede Beobachtung notiert. Um welche Zeit sie morgens das Haus verließen, wann sie abends nach Hause kamen, welche Restaurants, Cafés und Geschäfte sie besuchten, an welchen Tagen sie bevorzugt wo hingingen und wann sie sich mit wem trafen. Da er die Namen der meisten Menschen, mit denen seine Zielpersonen Kontakt hatten, nicht kannte, hatte er sie selbst getauft, um sie auseinanderhalten zu können. Es gab die dürre Rothaarige, die Brünette mit dem Pferdegebiss, die rauchende Kollegin, Mister Bowlingschädel und einige mehr. Dieselbe Aufmerksamkeit hatte er den Ehemännern gewidmet. Allesamt Männer, die oft nicht zu Hause waren. Einige von ihnen arbeiteten Schicht, im Krankenhaus, auf dem Polizeirevier oder in einer der großen Fabriken. Einer war ein Versicherungsvertreter im Außendienst.
Beim bloßen Anblick der unzähligen Blätter, die sich über dem Tisch ausbreiteten, jedes oben rechts mit dem Namen der jeweiligen Familie gekennzeichnet, musste er lächeln. Er war fleißig gewesen während der letzten Monate.
Längst hatte sich in den Schichtplänen der Männer ein Muster abgezeichnet und er konnte genau absehen, zu welchen Zeiten sie Dienst hatten. Am einfachsten war es bei dem Mann von der Versicherung: Er war immer mittwochs und donnerstags nicht zu Hause. Ein eigenartiger Rhythmus, der ihn daran zweifeln ließ, dass dieser Mann tatsächlich dienstlich unterwegs war. Vermutlich behauptete er das nur und besuchte stattdessen seine heimliche Geliebte. Was er an diesen beiden Tagen wirklich tat, war nicht weiter wichtig, solange er nur fort war.
Anfangs war es schwierig gewesen, Frauen zu finden, die häufig allein waren, doch mit der Zeit hatte er seine Methode entwickelt. Er drückte sich an den Nachmittagen in den Cafés und Diners der Vorstädte herum und belauschte die Frauen an den Nachbartischen. Fast immer war eine dabei, die sich über ihre Einsamkeit beklagte und darüber, dass ihr Mann nie zu Hause war. Ihnen folgte er und begann sie zu beobachten. Die meisten entpuppten sich als gelangweilte Hausfrauen, die tagsüber nichts mit ihrer Zeit anzufangen wussten, deren Männer jedoch jeden Abend pünktlich nach Hause kamen. Verwöhnte Schnepfen, die sich besser eine Arbeit suchen sollten, statt ihn auf falsche Fährten zu lenken. Sie kamen jedenfalls nicht infrage.
Die fünf Frauen, deren Leben vor ihm ausgebreitet lag, waren – zusammen mit seinem gestrigen Opfer – seine Auserwählten. Es war in der Tat viel Arbeit gewesen, mehrere Familien gleichzeitig auszuspionieren, doch allein sich die Gesichter der Cops vorzustellen, wenn sie jeden Morgen ein neues Opfer fanden, ein neues Werk, war die Mühe wert.
Nicht jeden Morgen.
Dank der merkwürdigen Ereignisse dieser Nacht würde es morgen früh keinen Fund geben. Aber selbst wenn er nur jeden zweiten Tag oder dreimal die Woche zuschlug, würde das nicht nur die Cops in Aufruhr, sondern auch gleich die ganze Stadt in Panik versetzen. Er freute sich jetzt schon auf die Schlagzeilen und Fernsehberichte, die starren Mienen der Reporter und ihr geheucheltes Mitleid, während sie sich in Wahrheit voller Sensationsgier auf jeden Mord stürzten, und auf das Entsetzen in den Gesichtern ihrer Interviewpartner. Gegen ihn
Weitere Kostenlose Bücher