Daisy Sisters
müsste, bevor er genug Geld für ein neues Ruderboot hätte!«
Elna sieht Rune an, und er nickt. Ja, er wird eine Rede halten. Ein großer Redner ist er zwar nicht, aber wer ist das schon, abgesehen von diesen Verrückten, den Politikern. Ist der Hosenschlitz zu? Was soll er sagen? Was hat er doch gleich überlegt während der fürchterlichen Zugfahrt?
Er schaut Eivor an, sie begegnet seinem Blick und lächelt. Er bekommt plötzlich einen Kloß im Hals, er hat sie ja so schrecklich gern …
Der Kloß im Hals ist ein Warnsignal, das nicht zu übersehen ist. Er klopft an sein Bierglas, und es wird augenblicklich still. Alle haben offensichtlich gewartet, aber niemand war sicher, von welcher Seite ein paar Worte kommen sollten.
Er steht auf und hört in der Stille, wie der Regen gegen das Fenster im Rücken trommelt. Was zum Teufel soll er bloß sagen? Und wie hieß der Junge noch mal? Jacob war wohl der Name …
»Liebe Eivor«, sagt er, und da schellt es an der Tür, und es kommt wieder ein Telegramm. Es ist aus Sandviken, von Großmutter und Eivors Onkel. Ein normales Standardtelegramm, ohne Seltsamkeiten im Text. Aber als das Telegramm vorgelesen ist, erinnert sich Rune nicht mehr, was er hatte sagen wollen. Nicht an ein einziges Wort …
»Zweiundzwanzig Öre«, sagt er. »Zweiundzwanzig Öre hat dein Schwiegervater als Lohnerhöhung bei den letzten Verhandlungen bekommen. Aber das will ich euch sagen, der Schein trügt. Auch wenn es heißt, dass gerade jetzt goldene Zeiten für Schweden sind, so kann sich das schnell ändern. Und wenn die Lohnerhöhung nicht mehr als zwei Zehnörestücke beträgt, so riecht es doch unbestreitbar nach Katzengold, auch wenn alles glänzt. Ihr beide seid Kinder aus dem Volk. Dich, Eivor, kenne ich als reelles Mädchen, du hast ein Handwerk erlernt. Du bist Schneiderin, und darauf kannst du stolz sein und brauchst es nie zuzulassen, dassman auf dir herumtrampelt. Über dich, Jacob, weiß ich nicht viel mehr, als dass du Verkäufer bist. Aber du besitzt kein Geschäft, daher bist du in derselben Situation wie … deine Ehefrau Eivor … Ja … Aus meinem ganzen alten Herzen heraus wünsche ich euch Glück und bitte euch, nie zu vergessen, wer ihr seid … Ja … Prost auf das Brautpaar.«
Er trinkt und setzt sich. Was zum Teufel hat er eigentlich gesagt? Hat er da jetzt etwas angerichtet? Er schaut Elna an, aber sie wirkt zufrieden, lächelt und nickt ihm zu. Und Artur und Linnea … Nein, er scheint nicht ganz daneben getroffen zu haben. Aber ist es nicht trotzdem zum Verrücktwerden, dass er sich nicht erinnern kann, was er gesagt hat? Zweiundzwanzig Öre. Aber weiter?
Weiter kommt er nicht, da Artur jetzt seinen riesigen Körper vom Stuhl hochwuchtet und sich räuspert. Es wird sofort still. Erst als Artur vom Tisch weggeht, merkt er, dass alle ihn ansehen. »Ich will eigentlich bloß zum Klo«, sagt er. »Eine Rede kann ich danach halten. Wenn wir beim Kaffee sind.«
Und dabei bleibt es. Linneas Essensplatten scheinen für alle Zeiten zu reichen, die Gläser bleiben nie leer, Gespräche springen über den Tisch, weitere Telegramme kommen an, von Jacobs Cousin, Anzugschneider aus Bergkvara, von Tante Tilda vom Alundaväg in Trollhättan … Und endlich geschieht etwas, was den Gästen erlaubt, sich vom Tisch zu erheben. In der Tür steht ein pickeliger junger Mann mit Tasche und Stativ, unter dem Arm ein paar grauweiße Schirme. Er hat noch nie vorher ein Brautpaar zu Hause fotografiert, er ist nur der Assistent des Fotografen Malm, der ein Atelier an der Ecke Kvarngatan und Allégatan hat. Aber heute wurde Malm von einem Hexenschuss heimgesucht, und nun muss der Assistent auch einmal zeigen, was er taugt.
Sie möchten stehend fotografiert werden, und die einzigeStelle, die dazu geeignet scheint, genau vor der Balkontür, setzt voraus, dass man den Esstisch wegräumt, ebenso den kleinen Tisch voller Flaschen. Als alle wohlwollend helfen wollen, ist das Stativ im Weg, und als ein alter Mann namens Rune hilfsbereit einen Stecker einsteckt, sind natürlich sowohl Sicherung als auch Lampe hin. Artur muss auf die wacklige Stufenleiter klettern und die Sicherung im Schrank über der Garderobe im Flur austauschen, in der Zwischenzeit verschiebt der Assistent den Kühlschrank, um an den geerdeten Stecker zu kommen. Als endlich alles klar zu sein scheint, zeigt es sich, dass von allen erdenklichen Richtungen Seitenlicht kommt. Die Jalousien werden zugezogen, aber nun sind alle
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