Daisy Sisters
dass er trotz allem nicht ganz untauglich ist.
In einer Pension leisten sie sich ein ordentliches Frühstück. Vor sich haben sie einen freien Tag, Anders muss erst am nächsten Abend auftreten, und dann wird er in Tystberga sein, nicht sehr viele Meilen entfernt. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen kommt er lieber erst am Tag des Auftritts in den Ort und am liebsten so spät wie möglich. Außerwenn er an einen Ort kommt, wo der Dialekt unbekannt für ihn ist. Sie mieten ein billiges Pensionszimmer, es ist Winter, und sie kriechen unter die Decke, liegen dicht beieinander und hören jeder des anderen Atemzüge. Ein Augenblick reinster Stille.
»Ich hasse den Winter«, sagt Anders.
»Ich habe etwas Magendrücken«, antwortet Miriam und rollt sich zusammen.
»Das geht vorbei«, sagt Anders. »Du hast zu schnell gegessen.«
Am Abend ist sie tot. Das Magendrücken war das erste Anzeichen einer Darmverschlingung, der hinzugezogene Provinzarzt stand machtlos davor, und bevor es gelang, einen Transport ins Krankenhaus von Nyköping zu organisieren, war alles vorbei. Miriam stirbt unter schrecklichen Schmerzen, ihre Nägel zerkratzen Anders’ Hände bis aufs Blut. Ihre Augen sind voller Angst. Und dann ist es vorbei.
In wahnsinniger Wut flieht er, nachdem sie auf dem Friedhof von Vagnhärad begraben wurde. Er steht allein an ihrem Sarg, nur der Pastor und ein Totengräber, der im Hintergrund auf den richtigen Augenblick wartet, sind an diesem kalten Wintertag auf dem Friedhof zugegen.
Er zieht sein Engagement in Tystberga durch, reist dann nach Stockholm und beginnt zu saufen. Es dauert über ein Jahr, bis er sich wieder auf den Weg macht. Verändert, zwar immer noch Bauernkomiker, aber tief drinnen in dem Unbekannten, das man Seele nennt, gezeichnet.
Mehr Branntwein, mehr Rotwein. Nicht vergessen, einmal jede halbe Stunde in den Ausguss zu pissen, damit es nicht in die Hose geht. Draußen scheint die Sonne, Frau Sjögren kommt aus der braunen Tür des Mietshauses und geht in den Ort, um zu shoppen , wie das neuerdings heißt. Hallsberg, Vagnhärad … Es ist jetzt bald vierzig Jahre her …Nächstes Jahr, nächsten Winter … Februar … Aber da wird es ihn schon nicht mehr geben. Und es ist wohl fünfundzwanzig Jahre her, mindestens, dass er ihr Grab besucht hat. Und es eingeebnet fand, verschwunden.
Er geht zum Ausguss und pisst und wundert sich, warum er nicht weint, nicht die kleinste Träne. Wenn einer wie Lasse Nyman das kann? Nein, trink aus und schenk nach.
Aber wen, zum Teufel, hat Lasse Nyman da in seiner Kammer?
Ja, ja. Der Saukerl hat es wohl nicht leicht gehabt. Und er wird es wohl auch nie leichter haben. Sein ganzes Leben auf der Flucht …
Er schläft am Tisch und wacht davon auf, dass es an der Außentür klopft. Lasse Nyman kommt in die Küche gestürmt und starrt ihn verschreckt an.
»Nicht doch, bleib ganz ruhig, geh rein und schließ die Tür. Ich mache auf. Weiß der Teufel, wer das ist.«
Es ist Frau Sjögren.
»Guten Tag«, sagt sie. »Ich hoffe, ich störe nicht.«
»Überhaupt nicht.«
»Ich frage mich nur, ob Eivor vielleicht hier bei Ihnen ist, Herr …«
»Jönsson heiße ich. Wir haben uns wohl nie bekannt gemacht. Anders mit Vornamen.«
»Ich bin Frau Sjögren.«
»Das weiß ich.«
»Elna mit Vornamen.«
»Das wusste ich nicht.«
»Heutzutage kennt man kaum noch die Namen seiner Nachbarn.«
»Ja, das ist schade.«
Soll er sie hereinbitten? In die Küche, wo es wie auf einem Schlachtfeld aussieht? Und was hat sie überhaupt gefragt? Erbraucht dringend ein paar Gläser seiner Mischung, um klar zu denken. Aber er kann sie doch nicht in die Küche bitten …
Natürlich kann er! Er ist ja dabei, sich zu Tode zu saufen! Es gibt keinen Grund, damit hinterm Berg zu halten. Und sie, die er so oft heimlich beobachtet hat … Hol mich der Teufel, wenn er nicht gerade dabei ist, auch noch einen Ständer zu kriegen.
»Bitte, kommen Sie doch rein«, sagt er und macht einen Schritt zur Seite und zeigt auf die Küche.
Sie scheint sich nicht im Mindesten darum zu kümmern, wie es dort aussieht, sondern setzt sich einfach auf einen Stuhl und nimmt die Katze auf den Schoß.
Die Situation erschüttert ihn. Es ist, als ob er Frau Sjögren – oder Elna, wie sie anscheinend heißt – eigentlich nie wirklich gesehen hat. Er hat sie beobachtet, sie war sich dessen bewusst, und die Tatsache, dass sie nun hier ihm genau gegenübersitzt, zerstört das frühere Bild. Gleichzeitig
Weitere Kostenlose Bücher