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Daisy Sisters

Titel: Daisy Sisters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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ist es Miriam, die er im Stuhl vor sich platziert, der er noch ein Glas Wein einschenkt, obwohl sie nie trank, und dann unterhalten sie sich … Alles fließt zusammen. Der geile Cederlund, bügelfreie Nylonhemden, Wanderungen an den Kais von Göteborg, der zunehmende Autoverkehr, Vorstellungen, in denen er ausgepfiffen wurde, Vorstellungen, die er gerne gegeben hätte. Miriam ist als Zuhörerin eine Göttin. Nie wird sie müde, nie gibt sie andere Antworten, als er wünscht.
    Täglich wechselt er auch einige Worte mit der Katze. Und die Katze stimmt mit ihm darin überein, dass Amerika das Land in der Welt zu sein scheint, wo die Zukunft längst begonnen hat. Nein, die Katze macht keine Einwände, es ist schon richtig, was er sagt.
    Erster Mai. Kumuluswolken am Himmel, Regen in der Luft, drückend. Ein Tag, um ihn in der Küche zu verbringen.
    Plötzlich kommt er auf die Idee, einen Ausflug in die Wirklichkeit zu machen. Er hat gesehen, dass ein Demonstrationszug stattfinden soll, und jemand wird eine Ansprache halten. Die neuen Hosen, ein sauberes Hemd, den alten Hut, der gegen das verdammte Licht schützt. Dann ist er fertig. Ein letztes Glas – und los.
    Er stellt sich vor dem Bahnhof unter einen Baum und sieht die Demonstranten vorbeiziehen. Er versucht, in den Gesichtern der Menschen eine Botschaft zu lesen.
    Für die Sicherheit der Familie – garantierte Zusatzrente, liest er mit schmerzenden Augen. Das klingt natürlich ausgezeichnet.
    Er hätte sich eine Flasche mitnehmen sollen, der Mund ist trocken, und ihm wird schwindlig. Aber der Zug ist nicht so lang, das passt ja nun gut, hier in Hallsberg …
    Die Gesichter, was sagen sie? Dass niemand hungrig ist und niemand krank. Die Winterblässe ist natürlich noch da, der Frühling hat ja gerade erst begonnen, aber wenn er es mit den Gesichtern vergleicht, die vor fünfzig Jahren an ihm vorbeigezogen sind, so ist der Unterschied schier unfassbar. Und dieses Gewimmel von Farben! Früher war alles braun, schwarz und grau. Was er hier sieht, sind helle Pastellfarben, eine Blumenwiese im Gegensatz zu dem Beerdigungszug und den unterernährten, geisterhaften Gesichtern, die früher das Merkmal von Demonstrationszügen waren.
    Das Ganze sieht so verblüffend gemütlich aus.
    Als der kurze Zug den Baum passiert hat, unter dem er steht, nimmt er die Verfolgung auf der schattigen Seite der Straße auf … Er fühlt sich schlecht und sollte nach Hause gehen, aber jetzt hat er sich, zum Teufel noch mal, vorgenommen, den Auftritt der Politiker zu sehen.
    Unterhalb einer kleinen Rednertribüne stehen ein paar Bankreihen, und dahinter haben sich die Demonstranten imGras niedergelassen. Irgendein lokaler Sozialdemokrat steigt als Erster auf die Tribüne und redet, aber er hat eine so schwache Stimme, dass Anders nicht mitkriegt, was er sagt. Es ist merkwürdig, dass die Leute die richtige Atemtechnik nicht lernen. Was hat man davon, sich diesen Graugekleideten anzusehen? Er hätte nicht übel Lust, den Mann, der da redet, herunterzustoßen und selbst eine seiner alten Nummern vorzuführen. Würde das einschlagen?
    Nein, natürlich nicht. Er muss über seine Einfalt lachen.
    Aber immerhin – der Anblick eines Publikums und eine wacklige Tribüne machen ihn unruhig.
    Er fühlt sich plötzlich so elend, dass er sich hinlegen muss. Die Wolken ziehen über ihm dahin, und jetzt bekommt er Angst. Er wird doch wohl nicht hier auf diesem Grashang sterben? Vielleicht ist er ein paar Minuten ohne Bewusstsein, aber er stirbt nicht, sondern erwacht wieder zum Leben und schlägt die Augen auf.
    Er sieht keine Wolken, sondern direkt in Eivors geschminkte, aber unruhige Augen. »Bist du krank, Onkel?«, fragt sie.
    Er nimmt ihre dünne Hand und ist so froh darüber, nicht allein zu sein. Und sie zieht die Hand nicht zurück.
    »Das geht vorbei«, murmelt er. »Bleib nur hier sitzen … Das geht vorbei.«
    »Soll ich Hilfe holen?«, fragt sie.
    »Nein, bleib nur bei mir sitzen«, antwortet er und versucht zu lächeln. Die kleine Hand gibt ihm Sicherheit.
    »Du hast dir in die Hose gepinkelt, Onkel«, sagt sie und zieht ihre Hand zurück.
    Natürlich hat er das. Die braune Terylenhose hat einen dunklen Fleck auf dem linken Schenkel. Und es riecht nach Urin. Herrgott … Kann sie nicht weggehen?
    Aber sie geht nicht. Sie rückt nur ein Stück zur Seite, hat die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen und saugt an einem Grashalm. Auf der Tribüne beginnt jemand in selbstbewusstem

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