Damals warst du still
Autoreifen. Bald war alles wieder ganz still. David dachte an die Polizisten in den beiden Streifenwagen, die vor dem Tor Wache schoben, und verharrte fünf Minuten hinter dem Busch, bis er sich sicher war, dass niemand auf der Suche nach ihm war.
Vorsichtig richtete er sich auf. Es war noch immer sehr hell; bis zur Dämmerung musste er sich ein neues Versteck suchen. Gebückt lief er durch den Garten bis zu einem mannshohen Fliederbusch, hinter dem er unsichtbar bleiben würde und von dem aus er die Terrasse der Plessens im Auge behalten konnte. Hinter dem Flieder ragte die Mauer des Anwesens empor. David zwängte sich dazwischen und hockte sich, mittlerweile fast tropfnass, auf die Erde. Ihn fröstelte, und trotzdem war er dankbar über das kühle Wetter, das Plessen oder seinen Gärtner davon abhalten würde, den Garten zu gießen und dabei eventuell über David zu stolpern.
Die Minuten schlichen dahin. David versuchte, nicht an diesen vorletzten Tag zu denken, an dem Sabine noch einmal ihre Familie anordnen wollte, weil sie mit dem Ergebnis nicht hatte leben können. Sie hatte geweint, und so viel David verstanden hatte, war sie mit der Position des Bruders nicht einverstanden. Sie wollte, dass der Bruder sie ansah. Ihr »ein richtiger Bruder« war, wie sie es ausgedrückt hatte. Aber Plessen war kein Jota von seiner Bewertung abgewichen, und er hatte sich auch geweigert, das Prozedere der Anordnung zu wiederholen. Was wahr ist, bleibt wahr , hatte er Sabine auf seine leise, geduldige und doch seltsam autoritäre Weise erklärt. Es hat keinen Sinn, die Wahrheit verfälschen zu wollen, nur weil sie uns nicht bequem ist, Sabine.
Aber ich kann so nicht weitermachen.
Du kannst schon. Aber wir sind heute das Trotzköpfchen, was?
Nein, aber...
Sabine. Wenn du die Wahrheit nicht sehen willst – es gibt Menschen, die bereit sind, dir fromme Lügen zu erzählen. Du brauchst sie nur aufzusuchen.
Was... meinst du damit?
Männer und Frauen, die sich deine Geschichten zum hundertsten Mal anhören – so wie du sie immer wieder gern erzählst, immer wieder: die Legende der armen Sabine.
Fabian...
Und sie werden dir genau die Absolution erteilen, die du so gerne hörst, und sie werden dir sagen, dass deine Familie sehr böse zu dir gewesen und dir gar nichts anderes übrig geblieben sei, als Männern hinterherzusteigen und um Liebe zu betteln.
Nein!
Aber sie werden dir damit nicht geholfen haben. Hätten sie dir in der Vergangenheit geholfen, wärst du ja gar nicht hier. Stimmt das?
Ich...
Sabine, ein für alle Mal: Ich gehöre nicht zu diesen Männern und Frauen. Von mir erfährst du die Wahrheit und nichts als das, und wenn du sie annehmen kannst, bist du gerettet. Wenn nicht, bleibst du, was du bist. Ein ewiges Trotzköpfchen im Körper einer überreifen Frau, die sich lächerlich macht mit ihrem kindischen Benehmen. Willst du das?
Sabine hatte geweint und nicht antworten können, und David hatte sich beinahe noch schlechter gefühlt als am Tag davor, als es um ihn und Danae und seine Eltern gegangen war. Sabine war dann kurz vor dem Mittagessen einfach gegangen, hatte ihre Sachen zusammengerafft und das Seminar am vorletzten Tag abgebrochen, und David wäre ihr am liebsten gefolgt, wenn sein Auftrag nicht gewesen wäre, den er erfüllen musste und für den ihm nur noch heute oder morgen Nacht Zeit blieb. Er holte sein Telefon aus der Hosentasche und rief seine Mailbox ab. Es gab mehrere Nachrichten von Mona Seiler, in denen sie ihn bat, sie umgehend zurückzurufen, was er von hier aus schlecht tun konnte. Sandy hatte nicht angerufen. Als er heute früh gegen vier Uhr morgens nach Hause gekommen war, war sie weg gewesen und Debbie auch. Ihre Hälfte des Kleiderschranks war leer. Sie hatte ihm einen Zettel hinterlassen, auf dem in ihrer geschnörkelten Kinderschrift stand, dass sie mit Debbie bei ihren Eltern sei, »um nachzudenken«. Er hatte morgens um acht bei ihren Eltern angerufen, ihre Mutter hatte abgehoben und ihm ausgerichtet, dass Sandy nicht ans Telefon kommen wolle.
David schaltete das Handy auf Vibrationsalarm und schob es in die Hosentasche zurück.
Die Zeit verging, Minute für Minute, und jede einzelne spürte er wie ein zusätzliches Stück Blei an seinem Körper. Er setzte sich auf den feuchten Boden; der Schmutz und die Nässe waren ihm mittlerweile egal. Langsam senkte sich die Dämmerung auf den Garten. David nahm sein kleines, zusammenklappbares Fernglas und fixierte die Terrasse. Die
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