Damals warst du still
war, und beinahe hätte er eine riesige Dummheit gemacht und das Mädchen laufen lassen. Dann wäre er in ziemliche Schwierigkeiten geraten, denn dieses Kind würde nicht schweigen, sondern...
Er brachte es dann doch nicht fertig, es zu töten, er war einfach noch nicht so weit. Er ließ es stattdessen liegen, was zu dieser Jahreszeit und bei diesem Wetter und an diesem Platz auf dasselbe hinauslief. Während er sein Rad hochzog, warf er einen letzten Blick auf das gefesselte, geknebelte Kind, das ihn so enttäuscht hatte und immer noch wie wild in seinem Blut zappelte, statt sich wenigstens für ein paar Sekunden ruhig zu verhalten. Dann riss er das Rad in die Richtung, aus der er gekommen war und fuhr durch den eisigen Regen in die frühe Dämmerung. Er brauchte ein Betäubungsmittel, dachte er, so wie er es in Tierfilmen gesehen hatte: Man schoss die Tiere an, und sie fielen sofort in eine tiefe Narkose. So etwas brauchte er, aber so etwas gab es hier nicht, schon gar nicht für ihn.
Das Mädchen wurde noch in derselben Nacht gefunden, aber es starb trotzdem. Nicht an den Wunden, die der Junge ihr zugefügt hatte, sondern an Unterkühlung. Der Junge erfuhr davon nicht durch die Zeitung, sondern durch seine Mutter. An einem der folgenden Abende saß sie mit einem ihrer Saufkumpane aus dem Ort im Wohnzimmer. Und während die beiden sich die Kante gaben, erzählte die Mutter mit schwerer Stimme von dem Mädchen, das zu spät in ihre Klinik gekommen war und das man nicht mehr hatte retten können.
»Das Schwein«, sagte sie.
»Kranker Kerl«, bestätigte der Mann neben ihr und machte sich an den Knöpfen ihrer Bluse zu schaffen.
Die Mutter begann zu weinen. Wodkatränen.
»Wer macht so was?«, fragte sie niemanden Bestimmten, in den Raum hinein, aber der Mann antwortete trotzdem, geistesabwesend, denn er war mittlerweile beim BH angelangt. »Der is eben krank«, lallte er, während er ungeschickt an dem Verschluss herumhantierte. »Ein krankes, verkorkstes Schwein. Den sollte man abstechen wie eine Sau.«
Der Junge zog sich in sein Zimmer zurück, während es die beiden stöhnend auf dem Sofa trieben. Die Tat hatte ihm diesmal keine Erleichterung gebracht, im Gegenteil. Die Träume hatten keineswegs aufgehört, sie schienen eher noch länger und ausführlicher zu werden. Und wieder begannen ihn die bohrenden Fragen zu quälen, denen er sich nicht stellen mochte. Er war nun einmal so, wie er war. Es gab für ihn keine andere Option. Er musste tun, was er tat, und so würde es immer bleiben. Es würde sich nie ändern. Der Zwang würde ihn sein Leben lang im Würgegriff halten.
Aber warum war er so?
Es gab keine Antwort. Er wusste nicht einmal, wo er anfangen sollte zu suchen. Er ging ins Bad, wo seine Mutter unbeschriftete Döschen voller Schlaftabletten aufbewahrte. Er machte eins der Döschen auf und schüttete den Inhalt, etwa vierzig Pillen, in den Mund. Er zerkaute die entsetzlich bitteren Tabletten zu einem ekelhaft schmeckenden Brei und spülte ihn mit einem Glas Wasser herunter, als sei das gar nichts. Er betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken. Als er müde wurde, legte er sich in die trockene Badewanne, bewaffnet mit dem Handspiegel seiner Mutter, denn er wollte sich beim Sterben zusehen. Keine Sekunde lang bedauerte er, was er getan hatte. Stattdessen beobachtete er interessiert, wie sein Gesicht allmählich blasser wurde. Seine Hände wurden kalt, Schweiß trat ihm auf die Stirn, bis sie glänzte. Bald vergrößerten sich seine Pupillen, bis er nicht mehr scharf sehen konnte, und ihm wurde etwas übel. Das war das Letzte, woran er sich später erinnerte.
Gut zehn Stunden später erwachte er in dem Krankenhaus, in dem seine Mutter arbeitete. Ihm war entsetzlich schlecht, sein Magen tat weh, seine Speiseröhre brannte wie Feuer, aber es gab keinen Zweifel: Sein Versuch, sich selbst auszulöschen, war gescheitert. Er war am Leben. Seine Kondition war stärker als sein Wille zu sterben. Sein Körper würde sich erholen, und sein Geist würde nichts dagegen tun können. Der Junge schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, saß seine Mutter im Ärztekittel neben seinem Bett und sah ihn hasserfüllt an, als wollte sie sagen: Nicht mal das kriegst du auf die Reihe!
8
Freitag, 25. 7., 2.38 Uhr
David sprang in die Dunkelheit und landete einen langen Moment später auf federnd weichem, leicht abschüssigem Waldboden. Doch das Gefühl der Erleichterung war nur kurz, denn als er nach dem
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