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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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paar Sekunden, hoffte wider alle Vernunft, dass sich das Dunkel unter ihm etwas lichten würde, was nicht geschah. Dann sprang er.

7
    1988
    Etwa zwei, drei Wochen nach der Tat begann der Junge von seinem ersten menschlichen Opfer zu träumen. Es war immer derselbe Traum, wie eine Endlosschleife, aus der es kein Entkommen gab. Eine gesichtslose Frau mit dunklen Haaren näherte sich ihm, lockte ihn mit verführerischen Gesten, legte ihre Kleider ab und reichte ihm das Messer wie eine Aufforderung zu wiederholen, was er bereits getan hatte. Er nahm das Messer aus ihrer Hand und begann, ihre Haut zu ritzen, genoss den Anblick des Blutes, das langsam und dickflüssig aus der Wunde quoll, und die ganze Zeit schien die Frau ihn freundlich anzusehen, ja, ihn stumm, aber unmissverständlich aufzufordern, doch jetzt noch nicht aufzuhören, wo es anfing, richtig Spaß zu machen. Und der Junge fasste Mut, ließ die Spitze des Messers tief in ihr Fleisch gleiten, mitten hinein in die lebenswichtigen Organe, und nun begann das Blut munterer zu sprudeln, der Junge verlor seine Beherrschung und fing an, wie wild auf sie einzustechen, auf ihren Schoß, der alles Unheil der Welt in sich barg, und irgendwann sah er herunter auf diese irrsinnige... Schweinerei, und er schluchzte vor Ärger über sich selbst, und die Frau lachte ihn aus, weil er es wieder nicht fertig gebracht hatte, ein sauberes Stück Arbeit zu leisten...
    Er hasste diesen Traum. Er dachte, es gäbe nur ein Mittel, ihn auszulöschen: es das nächste Mal richtig zu machen, bis ganz zum Ende zu gehen, aber auf saubere Weise. Die Dämonen in seinem Kopf waren verstummt, aber ihre Saat – die Obsession – war aufgegangen. Der Drang zu töten war nun unwiderruflich ein Teil von ihm und trug die schrecklichsten Früchte in Form abseitigster Sehnsüchte. Erst jetzt begann die tatsächliche Spaltung in einen guten Jungen und einen bösen Jungen. So jedenfalls nahm der Junge sich wahr: als eine Doppelpersönlichkeit mit einer Licht- und einer Schattenexistenz.
    Er fand sich damit ab. Bemühte sich, in der Welt der Schemen zu funktionieren, und begriff, dass es bei diesen Anstrengungen eigentlich ausschließlich darum ging, sein Schatten-Ich zu schützen. Warum war er so? Warum konnte er nicht sein wie alle anderen? Oder waren die anderen wie er, und niemand gab es zu? Nein. Niemand, den er kannte, war wie er. Das sah er an den harmlosen Eins-plus-eins-macht-zwei-Gesichtern: Dahinter gab es keinen Raum für Geheimnisse. Im Westfernsehen sah er sich manchmal Filme an, in denen das Böse Gestalt angenommen hatte. Er fühlte sich verwandt mit Darth Vader, Freddy Krueger, Carrie. Immerhin: Sie existierten so wie er, wenn auch nur als Erfindung, als Idee des Bösen. Er hingegen war real.
    War er real? Diese scheinbar absurde Frage löste Ängste aus, die ihn so quälten, dass er sich nächtelang nicht mehr einzuschlafen traute.
    Dann gab es wieder ruhigere Tage, Phasen, in denen er manchmal glauben konnte, doch normal zu sein, vielleicht etwas seltsam, aber nicht abseitig oder krank. Bis sein Schatten-Ich wieder die Oberhand gewann, seine Gedanken erst verwirrte und dann fokussierte: auf ein einziges Ziel. Der Junge gehorchte dann wie eine Marionette, mit dem zwingenden Gefühl, dass sein musste, was jetzt geschehen würde. Und so blieb sein erstes Opfer nicht sein letztes.
    Der nächste Angriff erfolgte drei Monate nach dem ersten. Der Junge war mittlerweile sechzehn. Seine Schulnoten hatten sich verschlechtert, aber er gehörte immer noch zu den fünf, sechs Besten der Klasse. Lernen bereitete ihm keine große Mühe, Hausaufgaben und Prüfungen erledigte er fast nebenbei. Bena schien manchmal das Gespräch mit ihm zu suchen, aber er beachtete sie überhaupt nicht mehr. Wenn sie ihm auf der Straße begegnete (oft Arm in Arm mit Paul, mit dem sie jetzt »ging«), wechselte er sofort die Seite. Wenn er sie ansah, überkam ihn meistens eine explosive Mischung aus Gier und Ekel, und in diesen Momenten hasste er die Macht, die sie immer noch über seine Gefühle hatte. Dem wollte er sich nicht länger aussetzen.
    Eines Tages traf er sie vor dem Lebensmittelgeschäft im Nachbarort, in dem alle aus der Gegend einkauften. Sie kam aus der Tür heraus, er wollte gerade hinein – ein Ausweichen war diesmal unmöglich. Bena sah ihn direkt an, und einen Moment zu lang ließ er sich fallen in diesen warmen Blick ihrer wunderschönen braunen Augen. Danach drängte er mit hochrotem Kopf an ihr

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