Damals warst du still
zu weinen. Selbst Fischer blieb still angesichts dieser abgrundtiefen Traurigkeit, die nichts Verlogenes an sich hatte. Man konnte so etwas nicht spielen, dachte Mona, aber gleichzeitig wusste sie, dass manche Leute das sehr wohl fertig brachten. Sie dachte an den Mann, der seine Frau umgebracht und im Garten verscharrt und dann mit einer Ich-vermisse-dich-bitte-komme-zurück-Show im Fernsehen Verwandte, Freunde und Polizei wochenlang getäuscht hatte. Konnte Martinez das auch?
»Ihre Frau. Warum hat sie Sie fertig gemacht? Inwiefern?«
Schluchzen. Dann: »Ich will nichts Schlechtes über sie sagen. Nicht jetzt.«
»Sie müssen aber, Herr Martinez. Wir müssen rauskriegen, was passiert ist. Und Sie müssen uns helfen.«
»Ja.« Martinez schnäuzte sich. Er war etwa im Alter seiner Frau, sehr schlank und fit.
»Bitte: Warum sind Sie gegangen? Warum haben Sie Ihre Tochter mitgenommen?«
»Sonja war – immer nur schlecht drauf. Sie hat immer geweint. Sie hat vor Sara getrunken. Wein und Schnaps... Alles durcheinander. Sie hat sie gar nicht richtig erzogen.«
»Nachdem sie bei Plessen war oder davor?«
Martinez sah sie überrascht an. »Davor, natürlich! Jahrelang ging das so.«
»Ihre Frau war Alkoholikerin?«, schaltete sich Fischer ein.
Martinez richtete seinen Blick auf ihn. »Ich hasse dieses Wort«, sagte er schließlich.
»Aber es stimmt doch, oder?«
»Ja. Sicher. Sie war unglücklich, und deswegen hat sie getrunken.«
»Haben Sie sie unglücklich gemacht?«, fragte Mona. Sie fühlte sich so verschwitzt und unwohl, dass sie es kaum noch länger aushielt, aber sie waren noch lange nicht fertig.
»Ja«, sagte Martinez und sah aus, als stünde er vor dem nächsten Zusammenbruch. »Ich war schuld.«
»Was haben Sie gemacht? Haben Sie sie betrogen?«
»Ja. Auch. Ich bin ein Mensch... Ich lebe gern, ich lache gern. Anfangs fand Sonja das gut. Wir haben viel zusammen gelacht und hatten Spaß. Aber dann... Sie wollte mich für sich allein. Ich bin nicht der Mann, der das kann. Ich brauche Freiheit. Ich sterbe sonst.«
»Sex mit anderen«, sagte Fischer.
»Was?«
»Das verstehen Sie unter Freiheit. Sex mit einer anderen.«
»Nicht nur«, sagte Martinez; er sah zum ersten Mal während der Vernehmung verärgert aus. Das war besser als erneute Tränen, deshalb ließ Mona Fischer gewähren.
»Was denn sonst noch? Sex mit mehreren anderen?«
»So ein Quatsch!«
»Also, was jetzt?«
Martinez sah Mona an, als erwartete er, dass sie etwas gegen derart ungerechte Beschuldigungen unternahm. Mona sagte nichts.
»Was jetzt?«, wiederholte Fischer in schärferem Ton. Als Reaktion darauf richtete sich Martinez auf. Er ließ sich nicht gern etwas sagen. Es mobilisierte seine Kräfte, um sich zu wehren. »Ich hatte Sex mit anderen... Aber... Sie verstehen das nicht.«
»Dann erklären Sie es mir.«
»Es war notwendig. Ich hätte sie sonst schon viel früher verlassen.«
»Mit oder ohne Tochter?«
»Ach, Sie haben doch keine Ahnung. Sara... Sie liebt ihre Mutter. Aber ihre Mutter hat sich vor ihren Augen betrunken! Sie war nicht für sie da, wenn sie sie brauchte. Verstehen Sie! Das kann man einem elfjährigen Kind nicht zumuten! Verstehen Sie!«
»Ja«, sagte Mona und gab Fischer ein Zeichen, seinen Mund zu halten. Ihre eigene Mutter war so verrückt gewesen, dass Mona den größten Teil ihrer Kindheit in Angst und Schrecken verbracht hatte. Sie wusste, was man Kindern zumuten durfte, und was nicht.
»Ich bin wegen Sara gegangen. Nicht meinetwegen. Ich konnte Sara nicht mehr bei ihr lassen. Ich arbeite viel, den ganzen Tag. Ich habe eine Betreuerin für Sara, mit der sie sich versteht. Ich konnte sie nicht mehr allein lassen mit Sonja. Aber ich hab Sonja geliebt. Ich wäre bei ihr geblieben. Ohne Sara wäre ich bei ihr geblieben. Das schwöre ich.«
»Okay.«
»Ich schwöre es.«
»Ist schon gut.«
Sie würden Martinez verbieten, die Stadt zu verlassen, und ihn eventuell ein zweites oder drittes Mal vernehmen. Sie würden sein Alibi checken, sobald sie die ungefähre Todeszeit hatten, und natürlich, ob es nicht doch irgendeine dieser Lebensversicherungspolicen gab oder sogar ein Testament zu seinen Gunsten.
Aber Mona wusste jetzt schon, dass da nichts war. Sie mussten ganz woanders ansetzen.
19
Mittwoch, 16. 7., 17.00 Uhr
Auf der Konferenz erstatteten Forster und Schmidt Bericht. Demzufolge wusste kein Nachbar auch nur das Geringste außer einer alten Frau, die gegenüber von Sonja Martinez
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