Damals warst du still
hatte.
Mona griff nach ihrer Tasche und holte das Tonbandgerät heraus. Sie legte es aufs Bett und suchte nach der ersten Kassette. Sie setzte die Kopfhörer auf und spulte das Band vor.
»Ihr Bruder. Was war er für ein Typ als Kind?«
»Wie soll er schon gewesen sein?« Eine blitzschnelle Antwort mit so unfreundlicher Stimme, dass Mona selbst jetzt noch zurückzuckte. Sie erinnerte sich wieder an das unbehagliche Gefühl, vielleicht auf dem völlig falschen Dampfer zu sein. Und dann an das schon bessere Gefühl, das ihr sagte: Frag weiter. Lass sie reden. Manche Zeugen liebten das: weit auszuholen. Und waren sie erst einmal dabei, war es nicht mehr so schwierig, sie in jede gewünschte Richtung zu lenken.
So weit die Theorie. In Helga Kaysers Fall funktionierte sie nur eingeschränkt. Helga Kaysers Geschichte – jedenfalls die, die sie im Moment erzählen wollte – begann in den Fünfzigerjahren. Da war sie um die dreißig gewesen. Der Krieg war vorbei, und sie lebte mit ihrer Mutter »im falschen Teil der Hauptstadt«.
»Was meinen Sie damit?«
Die alte Frau hatte sie mitleidig angesehen. »Na im Osten eben. Da wo die Rosinenbomber nicht hinkamen. Das war der falsche Teil. Und ich wollte in den richtigen.«
»Ja... Hatten Sie zu dem Zeitpunkt noch Kontakt zu Ihrem Bruder?«
»Nein. Er war ja schon drüben.«
»Im Westen?«
»Genau.«
»Na gut, aber das ist doch kein Grund. Die Mauer wurde erst später gebaut und...«
»Tja. Ich war hüben, er war drüben.«
»Frau Kayser...«
»Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Ich war auf der Suche nach ‘nem Mann, der mich da rausholt, um es mal salopp auszudrücken. Fabian war im Westen und machte sich ‘ne schöne Zeit, ohne an seine Schwester zu denken.«
»Ja... War er – Fabian – schon immer so gewesen?«
»Wie gewesen?«
»So, na ja, egoistisch.«
»Was soll das denn wieder heißen?«
Mona hörte ihren eigenen Atem durch den Kopfhörer. »Hören Sie Frau Kayser, Sie haben gerade angedeutet, dass Ihr Bruder Sie im Stich gelassen hat. Meine Frage ist jetzt, ob er das schon immer so gemacht hat. Ob er dazu geneigt hat, nur seine eigenen Bedürfnisse zu sehen.«
Ein kurzes, bellendes Lachen. Dann: »Tja, meine Liebe, das kann man wohl sagen.«
Schweigen, während Mona darauf gewartet hatte, dass jetzt noch etwas kam. Irgendeine Erläuterung dieser vernichtenden Beurteilung. Aber nichts kam. Frau Kayser hatte stattdessen ihre Lippen zusammengepresst, als wollte sie sich selbst daran hindern, mehr als das Notwendigste herauszulassen.
Mona drückte auf die Pausentaste und dachte nach. Etwas später war Helga Kayser tatsächlich ins Erzählen gekommen und hatte dann gar nicht mehr aufhören wollen. Es ging leider an keiner Stelle um ihren Bruder, sondern ausschließlich um einen Mann, mit dem sie in den Fünzigerjahren unverheiratet zusammengelebt hatte, und um ihren gemeinsamen Sohn.
»Sie haben also doch Kinder?«
»Schon lange nicht mehr. Mein Sohn ist tot.«
»Oh. Seit wann?«
»Ich weiß nicht. Seit fünfzehn Jahren? Er war... krank.«
»Das tut mir Leid.«
Sie waren noch einmal in die Fünfzigerjahre zurückgekehrt. Helga Kayser, damals Helga Plessen, hatte zwar ihren Freund überreden können, mit ihr in den Westen zu gehen, aber er war eines Tages mit dem gemeinsamen Sohn einfach wieder in den Osten zurückgegangen. Hatte sie allein gelassen. War untergetaucht in der »Zone«, und »die Schweine dort«, sagte Helga Kayser, hätten ihr keine Auskunft über seinen Aufenthalt erteilt. Niemand habe ihr helfen wollen, und schließlich habe sie aufgegeben und einen anderen geheiratet. Erst viel, viel später, als die Mauer längst gebaut worden war, habe ihr Sohn sie von drüben angerufen. Damals sei er zehn Jahre alt gewesen, und sie habe ihn dann wenigstens mit einer gewissen Regelmäßigkeit besuchen können.
»Warum ist Ihr Sohn... Woran ist er gestorben?«
»Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich…, ich musste selber ins Krankenhaus zu der Zeit. Ich hatte..., na egal. Ich habe ihn also gar nicht mehr gesehen. Vor seinem Tod.«
»Sie konnten ihn nicht mehr besuchen?«
»Nein. Wir haben ein paar Mal telefoniert. Er war selber Arzt, wissen Sie. Er hat gewusst, was ihn erwartete. Das macht es so... grausam.«
Die Miene der alten Frau war weicher geworden, zugänglicher und freundlicher. Mona, ganz kribbelig vor mühsam unterdrückter Nervosität, hatte nun beschlossen, sie noch einmal auf ihren Bruder anzusprechen. Vielleicht konnte sie
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